Duisburg/Brescia..

Die Italienerin Giulia Minola starb mit 21 Jahren bei der Loveparade-Katastrophe in Duisburg. WAZ-Redakteur Alfons Winterseel besuchte die Familie der Verstorbenen in ihrer Heimatstadt Brescia - und ging auf Spurensuche.

Der Friedhof im norditalienischen Brescia liegt am 12. November im Sonnenschein. Ich bin auf der Suche nach dem Grab von Giulia Minola, die am 24. Juli bei der Loveparade ums Leben kam. Der Weg führt in die Katakomben. Ihre Mutter ist auch über 100 Tage nach der Beerdigung nicht in der Lage, das Grab ihrer Tochter aufzusuchen. Zu tief ist der Schmerz, zu übermächtig die Erinnerung, zu schwer das Herz.

Giulias Schwester Claudia hat mir eine Zeichnung gemacht, damit ich das Grab mit der Nummer 182 finden kann. Sie ist zwei Jahre älter als Giulia und von zerbrechlich wirkender Stärke.

Keine 22 Jahre alt

Das Grab findet sich weit oben in dem Gang des unterirdischen Kolumbariums. Die Grabplatte ziert ihr Foto und der Satz „Too weird to live, too rare to die“. Geboren am 2. Oktober 1988. Gestorben am 24. Juli 2010, nachmittags irgendwann zwischen 16 und 17 Uhr während der Loveparade in Duisburg. Sie wurde keine 22 Jahre alt.

In Brescia hatte sie das naturwissenschaftliche Lyzeum besucht. Nach ihrem Abschluss studierte sie am „Politecnico di Milano“ Modedesign. In der Metropole teilte sie sich das Zimmer mit ihrer Freundin Roberta. Einmal an einer Loveparade teilzunehmen, das war ihr Traum. Am 22. Juli flog sie von Mailand nach Düsseldorf, um ihn zu verwirklichen. Ein Traum, den sie wie 20 andere Menschen mit ihrem Leben bezahlte.

Es vergeht seit dem Tod ihrer Tochter kaum ein Tag, an dem Giulias Mutter, die Lehrerin Nadia Zanacchi, nicht im Internet nach neuen Informationen sucht, die ihr Antworten auf ihre Fragen geben könnten. In Deutschland haben die Angehörigen der Toten und die Verletzten bessere Möglichkeiten, aktuelle Berichte über die Loveparade-Tragödie in den Medien zu verfolgen. Vom Ausland aus ist es weitaus schwieriger. Acht der Toten kamen aus Italien, den Niederlanden, Spanien, Australien und Bosnien-Herzegowina.

Nadia Zanacchi schrieb an Bundeskanzlerin Angela Merkel, an Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und an Oberbürgermeister Adolf Sauerland. Alle drei antworteten ihr. Der Duisburger Oberbürgermeister ließ sein Antwort-Schreiben sogar ins Italienische übersetzen. Für seinen Brief hat sie nur einen Kommentar: „Shit! – Scheiße!“ Für sie trägt er die Verantwortung. Ob er will oder nicht, ob er zurücktritt oder nicht.

Besuch beim Schulfest

Als sie mir die Briefe zeigt, sitzen wir in der Lobby eines kleinen Hotels in Brescia. Am Abend zuvor waren wir gemeinsam in der Schule, in der Giulia ihre Jugend verbrachte. Es waren die „Dies Fasti“, ein zweitägiges Schulfest des „Liceo Scientifico A. Calini“. Die Schüler haben Theater gespielt, Ausstellungen vorbereitet und Schülerbands haben Musik gemacht.

Den Klassenraum, in dem Giulia unterrichtet wurde, haben Schüler und Lehrer mit Erinnerungen an sie eingerichtet. Fotos hängen an Schnüren, die wie Wäscheleinen den Raum durchziehen. Dazu Bilder und Skizzen, die sie gemalt hat. Auch eine Fotografie, die nichts anderes als einen Wolkenhimmel zeigt. Auf einem Computerbildschirm sind Fotos von der Loveparade zu sehen, darüber hängen Ausschnitte von deutschen und italienischen Zeitungen, die über die Katastrophe berichtet haben. Licht und Schatten eines jungen Lebens. Licht und Schatten – so lautete auch das Motto des Schulfestes.

Die letzte Veranstaltung der zweitägigen „Dies Fasti“ ist Giulia gewidmet. Ihre Mutter hatte mich gebeten, nach Brescia zu kommen, um den Schülern zu erklären, was in Duisburg geschehen war und Giulia aus ihrem jungen Leben gerissen hat.

Auch interessant

Gerechnet hatte sie mit 20 Schülern, Eltern und Lehrern, gekommen waren über 100. Eine Freundin von Giulias Mutter fungiert als Dolmetscherin. Das Fernsehen kommt, das Radio und die beiden örtlichen Zeitungen berichten. Duisburg ist für Brescia plötzlich näher gerückt. Keine Stadt irgendwo in Deutschland, wo irgendein Unglück geschah.

Fragen nach der Verantwortung

Fragen werden gestellt. Nach der Verantwortung der Verwaltung, der Politik und auch nach der Verantwortung der Medien. Wir hätten doch nur die Blog-Einträge lesen müssen, in denen vor einer Katastrophe gewarnt worden war. Ja, wir hätten sie lesen sollen, wir hätten ihnen Glauben schenken müssen. Heute sind sie Dokumente des Versagens. Auch des Versagens von Journalisten, egal ob sich durch eine Veröffentlichung dieser Blogeinträge irgendetwas geändert hätte.

Die Schüler stellen Fragen: Wer hatte ein wirtschaftliches Interesse? Warum wurde für eine Veranstaltung so massiv geworben, die noch gar nicht genehmigt war? Warum kam die Genehmigung erst am letzten Tag? Hat man Tote und Verletzte vielleicht einkalkuliert, die wirtschaftlichen Interessen höher gestellt als die Sicherheit? In Deutschland ist doch immer alles so perfekt, warum dann diese Katastrophe? Wird eines Tages ein Gericht urteilen? Und wie lange wird es dauern, bis es zur Anklage kommt? Über eine Stunde dauert es, bis trotz manch fehlender endgültiger Antwort niemand mehr fragt.

Spurensuche

Am nächsten Morgen gehe ich nach einer unruhigen Nacht noch einmal zur Schule, wo der Alltag wieder eingekehrt ist. Gegenüber dem Schultor liegt eine kleine Grünanlage, links und rechts rauschen die Autos vorbei, einige Tauben suchen nach ein paar Krümeln unter einer Bank. Vielleicht hat Giulia hier oft mit ihrer Schwester Claudia und ihren Freundinnen gesessen; sie haben gelacht, sich über Lehrer geärgert oder sich über die Jungs amüsiert.

Von einem Tag auf den anderen wurde sie aus ihrem jungen Leben gerissen. Angelockt vom Event der Loveparade. Ahnungslos und sicher voller Vorfreude ist sie dem Menschenstrom gefolgt. In Panik geraten, wahrscheinlich gestürzt, erdrückt, erstickt...

Was mögen ihre letzten Gedanken gewesen sein? Mama hilf mir? Gott, warum ich?...