Berlin. .
Sozialministerin Ursula von der Leyen verteidigt die Hartz-IV-Reform: „Es sind 740 Millionen Euro für 2,3 Millionen Kinder, das macht im Schnitt 320 Euro pro Kind und Jahr.“ Wichtiger seien jedoch Sport und Vereine.
„Alle haben ihre Tüten mitgenommen.“ Ursula von der Leyen lacht. Ihre Plätzchen sind gut angekommen, ihre Politik weniger. Die Gespräche über die Hartz-IV-Reform liefen zäh an. Immerhin: Bund und Länder kamen aus den Startlöchern, die Sozialministerin geht „mit gutem Gefühl in die Weihnachtstage“. Ein WAZ-Gespräch über den Sozialstaat und eine Neuerung: Bisher waren die Kinder aus Hartz-IV-Familien nur eine Kostenstelle. Künftig soll der Staat nicht Geld auszahlen, sondern Bildungsleistungen.
Frau Ministerin, Sie haben in den USA gelebt. Was haben Sie über den Sozialstaat gelernt?
Ursula von der Leyen: Ich habe dort schätzen gelernt, wie kostbar unser Sozialsystem sind. Ich habe erlebt, dass eine Lehrerin, die nicht versichert war, vor ihrer Klasse stand, obwohl sie erst am Vortag den Fuß gebrochen hatte. Sie konnte es sich schlicht nicht leisten, zu Hause zu bleiben. Ich habe allerdings genauso beeindruckendes Engagement von Bürgern in Bereichen erlebt, wo bei uns allein der Ruf nach dem Staat ertönt. Ich finde, der Staat muss den Grundbedarf zuverlässig garantieren, aber er darf sich nicht so breit machen, dass er Hilfen von Mensch zu Mensch erstickt.
Wissen Sie überhaupt, wie es bei kleinen Leuten zugeht?
Von der Leyen: Als Sozialministerin schöpfe ich natürlich auch aus meiner Berufserfahrung als Ärztin und dem bunten Alltag einer Familie mit Kindern.
Was heißt das für die Hartz-IV-Reform?
Von der Leyen: Natürlich sind Kinder mit betroffen, wenn Eltern über lange Zeit keinen Job haben. Bisher waren die Kinder aus Hartz-IV-Familien für die Verwaltung nur eine Zahl auf dem Überweisungsträger. Das war es. Wir erweitern erstmals den Blick aufs familiäre Umfeld. Vererbte Armut hat viel mit mangelnden Bildungschancen zu tun. Mit dem Bildungspaket setzen wir genau da an, damit die nächste Generation Chancen hat, unabhängig zu werden von der Hilfe der Gemeinschaft.
Da würde jetzt Sigmar Gabriel spotten: Wie viel Geige- oder Reitunterricht kann ein Hartz-IV-Kind für zehn Euro haben?
Von der Leyen: Eltern wissen, 120 Euro im Jahr sind akzeptabel für eine Mitgliedschaft im Sportverein. Teilhabe ist aber mehr: Beim Mittagessen dabei sein, beim Schulausflug mitmachen. Es sind 740 Millionen Euro für 2,3 Millionen Kinder, das macht im Schnitt 320 Euro pro Kind und Jahr. Wichtiger als die nackte Summe ist, dass wir uns darum bemühen, dass die Kinder in die Vereine kommen. Der Olympische Sportbund mit seinen 90.000 Vereinen macht mit. Der Musikschulverband hat eine Vereinbarung unterzeichnet. Neulich meldeten sich die Nürnberger Philharmoniker und erklärten, wir machen ein Angebot für diese Kinder. Genau diesen Prozess wollte ich anstoßen.
Warum kommt Ihnen Gabriel immer mit Ihrem Reitunterricht?
Von der Leyen: Das müssen Sie ihn fragen.
Wir haben einen Verdacht: Er macht damit klar, dass Sie eine Bürgerliche sind, während viele ihrer Vorgänger von ganz unten kamen. Haben Sie einen Makel?
Von der Leyen: Nein, genau so wenig wie es ein Nachteil ist, dass ich die erste Frau in diesem Amt bin. Die Leute sollen mich auch daran messen, was ich in meinem Job schaffe.
Das Bildungspaket könnte dazu führen, dass Hartz-IV-Familien sich mehr leisten können als die Kinder von Geringverdienern. Ist das gerecht?
Von der Leyen: Beim Bildungspaket gilt der Maßstab, den das Verfassungsgericht gesetzt hat. Kinder dürfen nicht außen vor sein, nur weil ihre Eltern lange Zeit ohne Arbeit sind. Sie sollen selbstverständlich mit dabei sein, wenn Gleichaltrige zum warmen Schulmittagessen oder nachmittags in den Fußballverein gehen.
Wer nur knapp über dem Hartz-IV-Niveau liegt, hat dann Pech?
Von der Leyen: 300.000 Kinder, deren Eltern den Kinderzuschlag beziehen, sollen jetzt schon denselben Anspruch auf das Bildungspaket erhalten wie die Kinder in Hartz IV. Sie müssen immer irgendwo eine Einkommensgrenze ziehen, ab der der Staat nicht mehr hilft. Dass Kinder aus ärmeren Familien zahlreich in die Sportvereine kommen, sollte ein gemeinsames Anliegen von Bund, Länder und Kommunen sein, zum Beispiel auch mit Hilfe von Sponsoren.
Ein Kompromiss wird auf jeden Fall teurer. Können wir uns darauf verständigen?
Von der Leyen: Das Verfassungsgericht hat uns eine komplett neue Auftrag gegeben, natürlich geht das nicht zum Nulltarif. 740 Millionen stehen für das Bildungspaket im Etat bereit, dem Ende der Verhandlungen kann ich nicht vorgreifen. Alle Mitglieder der Bundesregierung werden über alle Schritte und Forderungen informiert. Zum Schluss wird es ein rundes Paket geben.
Die SPD fordert Mindestlöhne und einen Sozialarbeiter für jede Schule. Das hat mit dem Hartz-IV-Urteil nichts zu tun. Warum lassen Sie sich darauf ein?
Von der Leyen: Die Spielregeln im Vermittlungsausschuss sind klar: Was beantragt wird, das muss auch behandelt werden.
Das ist eine Formalie. Jetzt antworten Sie mal politisch!
Von der Leyen: Mein Eindruck ist, dass alle Verhandler die hohe Verantwortung spüren und ein rasches Ergebnis wollen. Das gelingt nur, wenn beide Seiten sich respektieren. Dazu gehört Gesprächsbereitschaft, Offenheit und Ernsthaftigkeit. Ich würde nie sagen: Über dies oder jenes Thema reden wir nicht.
Führen die Verhandlungen über die Hartz-IV-Reform dazu, dass das Tor für den Mindestlohn weiter geöffnet wird, wie die CDU-Sozialausschüsse hoffen?
Von der Leyen: Mir ist vor allem wichtig, dass wir uns nicht in ideologischen Debatten verhaken, sondern zügig einen Kompromiss finden, den alle Seiten mit tragen können. Egal, ob Union, SPD, Grüne oder FDP, allen muss klar sein: Unsere Aufgabe ist, in kürzester Zeit ein Verfassungsgerichtsurteil zu Hartz IV umsetzen und nicht den gesamten Arbeitsmarkt, den Bildungsföderalismus und unser ganzes Sozialsystem umzuwälzen.
Kann der Regelsatz vorläufig ausgezahlt werden?
Von der Leyen: Man kann eine Sozialleistung nicht ohne ein Gesetz erbringen. Sie werden aber rückwirkend ausgezahlt.
Bildungsleistungen können Sie kaum rückwirkend erstatten.
Von der Leyen: Das ist der wichtigste Grund, warum wir bei den Verhandlungen auf¸s Tempo drücken. Wir dürfen die Kinder nicht auf ihr Bildungspaket warten lassen. Anfang Januar wissen wir, wie es weiter geht.
Es wird zäh, da helfen auch die selbstgebackenen Plätzchen nicht, die Sie zu der ersten Gesprächsrunde mitbrachten.
Von der Leyen: Alle haben ihre Tüten mitgenommen. Also, die Plätzchen sind schon mal gut angekommen. Im Ernst: Es war mir wichtig, dass wir alle noch vor Weihnachten aus den Startlöchern kommen. Die Atmosphäre ist so intensiv und konstruktiv gewesen, dass ich jetzt mit gutem Gefühl in die Weihnachtstage gehe.
Die Fragen stellte Miguel Sanches.