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Die Europäische Union widmet seit geraumer Zeit jedes Jahr einem bestimmten sozio-kulturellem Thema. In diesem Jahr sollte das öffentliche Bewusstsein für Armutsrisiken und ihre Ursachen gestärkt werden. Das ist nicht gelungen, klagen EU-Politiker.

Die Europäische Union widmet seit geraumer Zeit jedes Jahr einem bestimmten sozio-kulturellem Thema. Der Ernährung beispielsweise, dem Tourismus oder dem interkulturellen Dialog. 2010 war das „Europäische Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung“. In diesem Jahr sollte das öffentliche Bewusstsein für Armutsrisiken, ihre Ursachen und ihre Auswirkungen gestärkt werden. Das macht Sinn. 78 Millionen der 500 Millionen Bürger in der Europäischen Union gelten als arm, davon 20 Millionen Kinder.

Allein im vermeintlich so reichen Deutschland lebt ein Sechstel aller Kinder unter 15 Jahre von staatlichen Transferleistungen. Armutsrisiken seien eine gesellschaftliche Realität, heißt es in dem nationalen Konzept für das Europäische Jahr. „Aber eine Realität, die durch politisches Handeln … verändert werden kann.“ Nicht wenige Beobachter sind jedoch der Meinung, dass die Politik im Jahr 2010 die Armutsrisiken erheblich verschärft hat.

Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Europaweit haben Regierungen Sparpakete aufgelegt, um Schuldenberge abzutragen, die sie zur Rettung des maroden Bankensystems auftürmen mussten. „Diesen Sparprogrammen fehlt die soziale Ausgestaltung“, beklagt der grüne EU-Parlamentarier Sven Giegold die „tiefe Widersprüchlichkeit“ zwischen dem Anspruch dieses Europäischen Jahres und dem realen politischen Handeln. Ausgerechnet in diesem Jahr habe die europäische Politik „absolut keinen gesetzgeberischen Willen“ gezeigt, ein soziales Europa zu bauen.

Ähnlich sieht es SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Die bittere Wahrheit ist: Armut und soziale Ausgrenzung nehmen nicht ab, sondern zu.“ In Griechenland und Irland zeige sich, dass nicht die „Zocker an den Börsen“ die Zeche für die von ihnen verursachte Finanzkrise zahlen müssten, sondern die „kleinen Leute“. Und das Sparpaket der Bundesregierung treffe vor allem die Schwächsten der Gesellschaft, während Schwarz-Gelb „zuvor Hoteliers und Atomkonzerne mit Milliardengeschenken bedacht hat“, sagte Gabriel der NRZ.

Regierungen sparen bei den Schwachen

Tatsächlich geht dieses Sparpaket mit teils erheblichen Einschnitten insbesondere für Hilfsbedürftige einher. Hartz-IV-Betroffenen werden Elterngeld, Heizkostenzuschüsse und Rentenversicherungsbeiträge gestrichen, dazu spart die Regierung im kommenden Jahr zwei Milliarden Euro bei arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen ein. Hinzu kommen öffentlich wenig beachtete Kürzungen, etwa beim 1999 ins Leben gerufenen Programm „Soziale Stadt“, mit dem bundesweit etwa 500 Problemviertel auf Vordermann gebracht wurden. Dafür stehen ab kommendem Jahr nur noch ein Viertel der bislang 107 Millionen Euro zur Verfügung.

Nicht von ungefähr fällt auch an der Basis die Bilanz des Europäischen Jahres ernüchternd aus: „Die Diskrepanz zwischen schönen Reden und politischem Handeln ist bitter“, kommentiert Wolfgang Gern, der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz (NAK), in der sich die deutschen Wohlfahrtsverbände zusammengeschlossen haben.

Bundesregierung weist die Kritik zurück

Ganz anders sieht das naturgemäß die Bundesregierung: „So manche Kritik an der EU-Initiative kann nur verwundern, zumal wenn sie aus den Reihen derer kommt, die selbst aktiv Verantwortung für das Europäische Jahr 2010 übernommen haben und somit auch maßgeblich zum Gelingen beitragen wollten“, lässt das Bundessozialministerium von Ursula von der Leyen (CDU) verlautbaren, das die Federführung für die nationale Umsetzung hatte. Die lief unter dem Motto „Mit neuem Mut“, kostete 2,25 Millionen Euro und hatte zum Ziel, das öffentliche Bewusstsein für soziale Ausgrenzung und die Auswirkungen von Armut zu schärfen. Mission erfüllt, glauben die Verantwortlichen im Ministerium. „Es ist gelungen, eine breite Öffentlichkeit zu sensibilisieren und auch jene stärker zu Wort kommen zu lassen, die Armut und Ausgrenzung am eigenen Leib erfahren.“

Das ist selbst jenen zu optimistisch, die an einem der bundesweit 40 „Leuchtturmprojekte“ mitgewirkt haben. An der Basis sei zwar viel passiert, sagt Gerd Specht vom Bündnis gegen Armut und soziale Ausgrenzung (Basa) aus Gelsenkirchen. An zehn Aktionstagen haben dort von Armut Betroffene ihre Sorgen und Nöte sichtbar gemacht, etwa, indem sie Bücher in Bäumen aufhängten, um zu zeigen, wie unerreichbar Bildung für sie ist. „Aber auf der Bundesebene ist viel zu wenig passiert“, sagt Specht.

Zahl der von Armut Betroffenen soll um 20 Millionen gesenkt werden

Immerhin: Der Europäische Rat hat im Juni seine „Strategie 2020“ beschlossen – und sich darin darauf geeinigt, die Zahl der von Armut Betroffenen in Europa in den nächsten zehn Jahren um 20 Millionen zu senken. Dafür sei er dankbar, sagte Erzbischof Robert Zollitsch, der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz, der NRZ. Diese Selbstverpflichtung sei ein „konkretes Ziel, das in den kommenden Jahren eingefordert werden kann und muss“.

Übrigens: 2011 wird das Europäische Jahr „der Freiwilligentätigkeit zur Förderung der aktiven Bürgerschaft“. Macht auch Sinn. Allein in Deutschland arbeiten 50 000 Freiwillige, um an den Tafeln Lebensmittel an Bedürftige zu verteilen. Eine Million Menschen sind aktuell auf ihre Hilfe angewiesen. Die Zahl der Tafeln hat sich in den vergangenen zehn Jahren fast vervierfacht. Derzeit sind es 870.