Berlin. .

Der Politologe Alfred Grosser gilt als einer der wichtigsten Mittler zwischen Deutschen und Franzosen. DerWesten sprach mit ihm über Antisemitismus in Holland, deutsche Islamfeindlichkeit und schwarze Päpstinnen.

Man sah in ihm jahrelang den Mittler zwischen Franzosen und Deutschen. Und diese Rolle verkörpert der 85-Jährige Alfred Grosser idealtypisch. Aber in den letzten Jahren fiel der deutsch-französische Politologe, der 1975 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam, immer häufiger als Kritiker der israelischen Politik auf. Grosser ist so frei, auch und gerade weil er jüdischer Abstammung ist. In der NRW-Vertretung hielt er am Dienstagabend eine Rede, als der neue Band des „Handbuchs des Antisemitismus“ vorgestellt wurde. Mit ihm sprach Miguel Sanches über Antisemitismus, Israel und die Sarrazin-Debatte, die auch in Paris nicht verborgen blieb.

Herr Professor Grosser, in Holland wird orthodoxen Juden geraten, nach Israel oder in die USA auszuwandern - wegen des Antisemitismus.

Alfred Grosser: Das ist skandalös und zutiefst schockierend. Es ist immer so, dass man Verfolgten einen Teil der Schuld zuweist.

Nimmt der Antisemitismus in Europa zu?

Grosser: Nein, ich will aber auf einen Punkt aufmerksam machen. Wenn sich jüdische Gemeinden total mit der israelischen Politik identifizieren, soll man sich nicht wundern, dass die Ablehnung der israelischen Politik auch die jüdische Gemeinde trifft.

Dafür sind Sie oft kritisiert worden. Wo erfahren Sie den meisten Widerspruch?

Grosser: Keineswegs in Israel. Ein Teil von dem, was kritische Israelis sagen, würde in Deutschland als antisemitisch gelten.

Bundespräsident Wulff war in Israel. In der Öffentlichkeit hat er kein kritisches Wort über die Mauer oder über den Angriff auf Gaza verloren. War er zu leise?

Grosser: Das hat mich überrascht. Ich war enttäuscht. Schon Frau Merkel hat vor der Knesset eine Rede gehalten, die auch von einem Mitglied der Likud-Partei hätte sein können. Aber: Unter der offiziellen Ebene läuft vieles. Ich weiß, dass zum Beispiel die deutsche Botschaft angewiesen wird, die Organisationen zu unterstützen, die beim Aufbau der palästinensischen Dörfer helfen.

Muss man sich als Deutscher mit Ratschlägen in Israel zurückhalten?

Grosser: Der damalige Bundespräsident Horst Köhler hat 2005 vor der Knesset gesagt, aus der Vergangenheit, aus Auschwitz ergibt sich die Pflicht für jeden Deutschen, überall für Menschenrechte und Menschenwürde einzutreten. Ich dachte, er habe auch über die Palästinenser geredet. Aber das war wohl nicht der Fall.

Zur Person

Alfred Grosser (84) ist ein in Frankreich und Deutschland gleichermaßen renommierter Politologe und Soziologe, der sich um die deutsch-französische Aussöhnung verdient gemacht hat.

Mit seiner Familie emigrierte Grosser 1933 nach Frankreich, 1937 wurde er französischer Staatsbürger. 1955 übernahm er einen Lehrstuhl am Institut d'études politiques de Paris in Paris.

Für sein Engagement wurde Grosser vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der Theodor-Heuss-Medaille und dem Großen Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband.

Nach einer Studie der Uni Münster stehen die Deutschen anderen Religionen deutlich ablehnender gegenüber als zum Beispiel die Franzosen. Die Forscher waren überrascht. Sie auch?

Grosser: Ja, denn die Offenheit in Deutschland ist enorm. Allerdings ist das Problem mit den Muslimen in Deutschland schon besonders, weil eine Islamfeindlichkeit auch von außen geschürt wird.

Woran denken Sie da?

Grosser: Ich denke an die furchtbare Rede, die der türkische Ministerpräsident Erdogan im Februar 2008 in Köln gehalten hat. Er sagte, ihr bleibt alle Türken, ob ihr Deutsche seid oder nicht. Ihr sollt Deutsch lernen, aber als Fremdsprache. Das war eine Provokation, und die führte zu negativen Reaktionen für alle Türken. Ich wundere mich auf der anderen Seite aber, wie schwer es fällt, zu erkennen, dass einer Deutscher geworden ist. Ich wurde 1937 eingebürgert. In Frankreich würde niemand von mir sagen, ich sei kein echter Franzose. Wir haben einen Präsidenten, der ein Emigrant ist. Hier in Deutschland würde man ihn „einen Präsident mit Migrationshintergrund“ nennen. Hier heißt es noch „ein Türke mit deutschem Pass“. Auch das schürt Ablehnung.

Bundespräsident Wulff sagt, dass die christlich-jüdische Kultur, aber auch der Islam zu Deutschland gehören. Stimmen Sie zu?

Grosser: Da bin ich erst mal einverstanden. Nur einen Punkt würde ich anders sehen. Er spricht von einer christlich -jüdischen Tradition. Die Christen aber haben die Juden jahrhundertelang verfolgt.

Dient der Dialog der Religionen der Völkerverständigung? Oder sind es Rückzugsgefechte, weil immer mehr Menschen den Kirchen davonlaufen?

Grosser: Ich bin mit Hans Küng einverstanden, wenn er vom Weltethos spricht. Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hat mal gesagt, schwierig sei, auszumachen, was eine gemeinsame Ethik sei und was jeder Kultur zustehen sollte. Es gibt Grundrechte, die für alle gelten sollten, und es gibt eine islamische Kultur. Es gibt Punkte im Islam, die nicht gelten sollten, die Unterwerfung der Frau zum Beispiel. Ich sage aber auch immer, die katholische Kirche wird sich erst dann verändert haben, wenn die erste schwarze Frau Papst ist.

Haben Sie in Frankreich die Debatte über das Buch von Thilo Sarrazin verfolgt?

Grosser (lacht): Das war immer mein Traum: Ein Buch zu schreiben, das keiner liest, aber Millionen kaufen. Es scheint, dass die Millionen Käufer das Buch nicht gelesen haben. Denn das Problem mit dem Islam ist im Buch nicht das wichtigste. Das schreibt Sarrazin selbst.

Sondern?

Grosser:Dass die Deutschen zu 80 Prozent kultiviert seien, weil sie die Kultur in ihren Genen tragen. Sie sollen nun höher stehen als die Unkultivierten, die obendrein zu viele Kinder und Laster haben. Diese soziale Verachtung ist zu wenig bemerkt worden. Die Verneinung des Gleichheitsprinzips hätte zum sofortigen Verstoß aus der SPD führen müssen.