Essen. .
Wissenschaftler sehen Parallelen zwischen dem Antisemitismus des 19. Jahrhunderts und der aktuellen Integrationsdebatte. 58,4 Prozent der Deutschen würden befürworten, wenn die Religionsausübung für Muslime erheblich eingeschränkt würde.
Heinrich von Treitschke war so etwas wie die Verkörperung des Bürgerlichen. Konservativ, gebildet, staatstragend. Alles andere als radikal. 1879 veröffentlichte der Reichstagsabgeordnete und Historiker einen Aufsatz mit dem Titel „Unsere Aussichten“. Darin erregt er sich über Zuwanderer aus Osteuropa, über ihren mangelnden Willen zur Integration, ihre angebliche Verachtung deutscher Werte und die vermeintlich drohende Überfremdung des deutschen „Volksthums“. Klingt wie ein Text, der in der aktuellen Integrationsdiskussion verfasst worden sein könnte. Allerdings waren die Zuwanderer, über die sich von Treitschke empörte, Juden. Sein Aufsatz stieß auf rege Resonanz und wurde Ausgangspunkt einer breiten öffentlichen Debatte, an deren Ende das Wort „Antisemitismus“ gesellschaftsfähig geworden war.
„Damals wie heute greifen
die gleichen Mechanismen“
Es gibt durchaus Parallelen zwischen dem aufkeimenden Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts und der zunehmend agressiven Islamfeindlichkeit im Deutschland am Anfang des 21. Jahrhunderts. Darauf weisen Forscher wie Wolfgang Benz, der scheidende Direktor des Berliner Zentrums für Antisemitismusforschung, bereits seit Längerem hin: „Damals wie heute greifen die gleichen Mechanismen“, so Benz. Die heutigen Proteste gegen den Bau von Moscheen – einem Zeichen für die zunehmende Emanzipation und Integration des Islam – werden mit den gleichen Argumenten unterfüttert wie im 19. Jahrhundert die Proteste gegen den Bau von Synagogen; heute werden einzelne Koransuren zitiert, um die vermeintliche Gefährlichkeit und Rückständigkeit des Islam zu beweisen, vor 130 Jahren wurden Passagen aus Tanach und Talmud aus dem Zusammenhang gerissen.
Stephan Kramer, der Generalsekretär des Zentralrats der Juden, hält die Vergleiche von frühem Antisemitismus mit der aktuellen Islamfeindlichkeit für durchaus legitim, „auch wenn man sagen muss, dass es am Ende noch nicht das Gleiche ist“. Dennoch: „Die Mechanismen der Stigmatisierung und Ausgrenzung von Minderheiten, die gegen sie gerichtete Menschenfeindlichkeit sind ähnlich.“
Auch die Ursachen ähneln sich: „In Zeiten gesellschaftlicher Identitätskrisen braucht die Mehrheit schlichte Welterklärungen und versucht sich stets durch die Ausgrenzung von Minderheiten zu definieren“, sagt Benz. Ende des 19. Jahrhunderts verunsicherten Liberalismus und Demokratie das Bürgertum, heute ist es die Globalisierung. Diese Unsicherheit schürt Angst, die Angst bricht sich Bahn in der Diffamierung von Minderheiten. Die legitime Kritik an einer fundamentalistischen Ausprägung des Islam samt Auswüchsen wie sogenannten Ehrenmorden und Terror ist in der öffentlichen Diskussion teils einer generellen Ablehnung gewichen.
Plumpes Schreckensszenario
58,4 Prozent der Deutschen würden es laut der aktuellen Rechtsextremismus-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung befürworten, wenn die Religionsausübung für Muslime erheblich eingeschränkt würde. Thilo Sarrazin, kleinbürgerlich, konservativ, gebildet, staatstragend, warnt in seinem Buch, das die aktuelle Debatte so befeuert hat: „Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar“. Ein solches plumpes Schreckensszenario hat sich von Treitschke seinerzeit nicht gewagt zu skizzieren.
Für Bernd Sommer vom Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) in Essen ist die aktuelle Islamdebatte die „Zuspitzung eines Prozesses, der sich seit einigen Jahren schleichend vollzieht“. Eben diese schleichende Entwicklung ist besonders gefährlich, weil sie mit einem Gewöhnungseffekt einhergeht und sich die Wahrnehmung allmählich verschiebt. Was vor wenigen Jahren noch als radikal und extremistisch verurteilt worden wäre - beispielsweise die Forderung nach einem Einwanderungsstopp- gilt heute als provokante, aber tolerable Meinungsäußerung.
Umgekehrt regte sich kein Mensch auf, als Unionspolitiker wie Wolfgang Schäuble noch vor nicht allzu langer Zeit davon sprachen, dass der Islam mittlerweile zu Deutschland gehört - Bundespräsident Christian Wulff musste sich jüngst für diese Einschätzung harsche Kritik aus den eigenen Reihen anhören. „Radikalität bricht nicht von heute auf morgen ein“, sagt Sommer. Auch der bürgerliche Antisemitismus des 19. Jahrhunderts brauchte etliche Jahrzehnte, um sich zu einer mörderischen Ideologie zu radikalisieren.
„Stimmung
ist gekippt“
Die Religionspädagogin Lamya Kaddor, eine der wortmächtigsten Vertreterinnen der liberalen Muslime in Deutschland, ist angesichts der sich weiter zuspitzenden Debatte tief besorgt. Sie habe niemals erwartet, dass in einem demokratischen, aufgeklärten Deutschland aufkeimender Rassismus entstehen könne. Angesichts der aktuellen Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung sehe sie aber ihre „tiefsten Befürchtungen“ bestätigt: „Die Stimmung ist gekippt. Das Feindbild Islam wird zementiert.“