Stuttgart. .

Vor dem Stuttgarter Landgericht ist der Prozess um den Amoklauf von Winnenden aus dem März 2009 fortgesetzt worden. Die Hoffnungen der Angehörigen der Opfer ruhten auf den Aussagen der Psychotherapeutin des Täters. Aber die Frau schwieg.

Der Amoklauf von Winnenden ereignete sich am Vormittag des 11. März 2009 in der Albertville-Realschule sowie später in deren Umgebung in Winnenden, rund 20 Kilometer nordöstlich von Stuttgart, sowie in Wendlingen. Der 17-jährige Tim K. tötete 15 Menschen und zuletzt sich selbst.

Zum Prozess: Es ist wieder einer dieser Tage, an dem ihre Hoffnungen so sehr enttäuscht werden sollen. Juliane H., die Psychotherapeutin, ist als Zeugin im Prozess um den Amoklauf von Winnenden geladen. Sie soll erzählen, was sie schon der Polizei berichtete, dass Tim K., der Amokläufer, fünfmal bei ihr gewesen ist, dass er dabei auch Mordgedanken geäußert haben soll. Erwartungsvoll liegen die Blicke der Angehörigen auf der Frau mit der strengen Brille. Doch sie beruft sich auf ihre ärztliche Schweigepflicht.

Die Mutter kämpft gegen die Tränen

„Danke schön!“ entfährt es Barbara Nalepa ironisch, als die 39-jährige Therapeutin an ihr vorbei den Sitzungssaal 1 des Stuttgarter Landgerichts verlässt. Die Mutter der bei dem Amoklauf getöteten Schülerin Nicole kämpft gegen die Tränen, wie so oft in diesem Prozess. Und der ist wahrhaftig alles andere als ein unkompliziertes Unterfangen.

Allein die Tatsache, dass der Angeklagte Jörg K., der Vater des Amokläufers, schon seit mehreren Verhandlungstagen dem Prozess fernbleibt. Unentschuldigt. Erst war er psychisch belastet durch angebliche Morddrohungen gegen ihn, dann kam er einfach nicht mehr. Das Gericht hat sich entschieden trotzdem fortzufahren. Man brauche ihn nicht zur Aufklärung. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 51-Jährigen Verstoß gegen das Waffengesetz und fahrlässige Tötung vor, weil er die Tatwaffe nicht wie vorgeschrieben verschlossen im Waffenschrank aufbewahrt hatte.

Juliane H., die Psychotherapeutin, spricht so leise, so verunsichert in das Mikrofon, dass man sie kaum verstehen kann. Direkt nach der Tat hatte die Polizei sie verhört. Es habe geheißen, es läge eine Erklärung der Eltern vor, sie von ihrer Schweigepflicht zu entbinden. Und so erzählte Juliane H.. Noch nicht ahnend, dass schon bald die Frage nach dem Wissen der Eltern um Tim K.s Probleme, um seine Depressionen, auftauchen würde. Dass auch insistiert werden würde: Was wusste die Therapeutin? Warnte sie die Eltern vor ernsthaften Problemen?

Die vermeintliche Entbindungserklärung ist bis heute nicht aufgetaucht, fehlt in den Akten. Und wohl auch im Bewusstsein, dass Regressforderungen der Angehörigen auf sie zukommen könnten, auf die Klinik, in der sie damals arbeitete, schweigt Juliane H. nun vor Gericht. Selbst ihre Aussagen vor der Polizei dürfen nun im Prozess nicht mehr berücksichtigt werden. Es ist, als ob sie nie etwas gesagt hätte. Der Hausarzt hatte Tim K. 2008 zur Diagnose in die Weinsberger Klinik geschickt. Er hatte über Depressionen geklagt. Ingrid Abele und ihr Mann stehen an diesem Novembermorgen niedergeschlagen im Eingang des Landgerichts. Ihre Tochter Michaela, eine junge Lehrerin der Albertville-Realschule, ist bei dem Amoklauf getötet worden. So oft sie können, sitzen sie im Gerichtssaal, erhoffen sich Aufklärung der Tat. „Wir haben Probleme damit, dass es gesetzlich erlaubt ist in einem solchen Fall nicht auszusagen. Wieso wird die Persönlichkeit des Täters geschützt?“, kritisieren die beiden.

Wie ihr Anwalt Michael Bagin setzen sie nun auf all die anderen Hinweise, die es schon vor der Tat gab. Der holt seine Akten und zitiert aus den Aussagen eines Kommissars, der nach dem Amoklauf auch die Internet-Chats von Tim K.s Schwester J. auswertete. 400 000 insgesamt. Einen davon schreibt sie spätabends am 3. August 2007. Lange vor der Tat also. Die Mutter habe Brustkrebs. Der Vater trinke und sei aggressiv, und ihr Bruder sei manisch-depressiv wie die Oma. Sie habe Angst. „400 000 Chats!“, sagt Ingrid Abele, „irgendwo musste das Mädchen ja seine Sorgen loswerden.“

Und dass es in Tim K.s Familie, die nach außen so gut situiert erschien, Probleme gab, große sogar, davon sind die Angehörigen der 15 Toten von Winnenden überzeugt.