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Die Proteste gegen das Bauprojekt Stuttgart 21sollen für NRW eine Lehre sein: Ministerpräsidentin Hannelore Kraft will am Industriestandort NRW festhalten. Sie plant jetzt einen „Akzeptanz-Initiative“ mit der Wirtschaft für künftige Großprojekte.
Frau Kraft, Sie sind seit fast drei Monaten Ministerpräsidentin. Verändert das Amt Sie.
Hannelore Kraft: Nein, bisher nicht. Und das ist irgendwie beruhigend. Natürlich erkennen einen inzwischen viele Bürgerinnen und Bürger – nicht nur in NRW. Es freut mich sehr, wie freundlich sie sich mir gegenüber verhalten. Ich hoffe, das bleibt so, aber es können auch andere Zeiten kommen. Da bin ich Realistin.
Nutzt Ihnen die Amtsautorität in der SPD?
Hannelore Kraft: Ich führe in der Partei den größten Landesverband, und schon deshalb gab es nie ein Autoritätsproblem. Die Stimme der NRW-SPD zählt nach wie vor viel, und wir haben einen entsprechend großen Einfluss.
Die Republik diskutiert über Stuttgart 21. Ein legitimiertes Projekt wird dort in Frage gestellt. Sehen Sie nicht Parallelen zu NRW, etwa zum Kraftwerk Datteln?
Hannelore Kraft: Nein. In Stuttgart darf man nicht übersehen, dass sich das Projekt in den Jahren verändert hat. Die Bevölkerung hat zum Beispiel schon kritisch wahrgenommen, dass die Kosten deutlich gestiegen sind. An Stuttgart 21 zeigt sich, dass einmal getroffene politische Entscheidungen nicht automatisch dazu führen, dass die Bürger das Projekt dauerhaft akzeptieren. Das heißt, man muss die Bevölkerung ständig über die Entwicklung informieren und um Unterstützung werben. Diese Lehre ziehe ich aus Stuttgart 21. Wir wollen in NRW mit der Wirtschaft eine Akzeptanz-Initiative verabreden, um für den Industriestandort zu werben. Dabei müssen bei allen Entscheidungen die wichtigen Aspekte wie Sicherheit und Naturschutz ebenfalls berücksichtigt werden.
Kein Feind des Industrielands NRW
Wenn man von dem juristischen Streit um Datteln absieht – stehen die NRW-SPD und ihre Vorsitzende noch zum Industriestandort?
Hannelore Kraft: Ohne Zweifel. Das heißt aber doch nicht, dass man berechtigte Sicherheitsinteressen der Bevölkerung ausblenden oder Artenschutz einfach übergehen darf. Wir, Unternehmen und Politik, müssen uns diesen möglichen Zielkonflikte frühzeitig stellen. Großprojekte lassen sich nicht mehr einfach durchpauken. Ein Politiker, der seine Position nicht immer wieder erläutert, scheitert heutzutage. Und wer bei der Planung auch auf Fledermäuse achtet, ist kein Feind des Industrielandes NRW. Man kommt weiter, wenn man Betroffene zu Beteiligten macht. In Datteln liegt das Problem mehr beim Genehmigungsmurks, den die frühere Landesregierung angerichtet hat .
Bei der Steinkohle weht der Gegenwind von der EU. Sie will 2014 statt 2018 die Subventionen stoppen. Wie geht es weiter?
Hannelore Kraft: Die Kanzlerin verhandelt jetzt in Brüssel. Dabei hat sie unsere volle Unterstützung. Frau Merkel steht im Wort, dass das Steinkohle-Finanzierungsgesetz gilt. Es steht die Verlässlichkeit von Politik auf dem Spiel. Leider spricht die Bundesregierung nicht mit einer Zunge, da Wirtschaftsminister Brüderle früher aus der Steinkohle aussteigen will. Das schwächt unsere Position in Brüssel.
Das Saarland ist bereit, für ein Entgegegenkommen der EU die Revisionsklausel zu opfern und auf einen möglichen Sockelbergbau nach 2018 zu verzichten. Steht der Sockel für NRW zur Disposition?
Hannelore Kraft: Nein. Was der Ministerpräsidenten-Kollege Müller aus dem Saarland macht, ist opportunistisch. Er schickt seine letzten Bergleute demnächst nach NRW. Der Bergbau im Saarland läuft aus. Da fällt ihm der Verzicht auf die Revisionsklausel natürlich leicht. Dies finde ich politisch sehr fragwürdig. Ich halte einen Sockelbergbau weiterhin für vernünftig, um unsere weltweite Spitzenposition in der Bergbauzulieferindustrie zu halten und die Energieversorgungssicherheit ein Stück weit zu garantieren.
Land müsste 17.000 Stellen abbauen - „völlig unrealistisch“
Ein Leitmotiv Ihrer Regierung ist die soziale Prävention, mit der Sie zusätzliche Milliarden-Schulden rechtfertigen.
Hannelore Kraft: Ob wir im nächsten Jahr für eine Politik der Vorbeugung zusätzliche Schulden machen müssen, hängt auch von der Entwicklung der Steuereinnahmen ab. Das ist jetzt noch nicht klar. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir eine nachhaltige Konsolidierung der Haushalte von Land und Kommunen nur erreichen, wenn wir die sozialen Reparaturkosten dauerhaft senken. Entscheidend dafür sind Investitionen in Familie, Kinder und Bildung. Wir dürfen kein Kind mehr zurücklassen. Die Versuche früherer Regierungen, Personal abzubauen oder beim Sozialen zu kürzen, bringen kurzfristige Einsparungen, kosten aber langfristig mehr Geld. Alle Länder haben Probleme, ihren Haushalt zu konsolidieren, und echter Schuldenabbau funktioniert nicht wirklich. Die Regierung Rüttgers hatte rund 20 Milliarden Euro Steuermehreinnahmen mehr als die Vorgängerregierung, konnte aber die Neuverschuldung nur um rund fünf Milliarden Euro senken. Anders als der Bund können wir kaum an der Einnahmeschraube drehen, die Kommunen auch nicht. Das lässt sich auch nicht mit Personalabbau ausgleichen, da Schulen, Universitäten, Polizei und Justiz ohnehin tabu sind. Allein um die Mindereinnahmen aus dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz zu kompensieren, also Hotelierssteuer und Entlastungen für große Erbschaften, müssten wir 17.000 Stellen abbauen. Das ist völlig unrealistisch.
Ist Ihre Politik also ein Blankoscheck, um neue Schulden machen zu können?
Hannelore Kraft: Nein, auch ich will die Null-Schulden-Grenze erreichen. Das ist ein Gebot der Nachhaltigkeit. Aber es geht erkennbar nicht wirklich durch Streichung von Personalstellen und Sozialausgaben. Wir müssen Familien und Kindern schon ganz früh Unterstützungsangebote machen und mehr junge Menschen zu besseren Schulabschlüssen führen statt später hohe Reparaturkosten zu bezahlen. Für diese Politik stelle ich mich auch persönlich in den Wind.
Und wie wollen Sie Ihre Ausgaben finanzieren?
Hannelore Kraft: In Berlin hat die SPD noch nicht die Mehrheit, um den Spitzensteuersatz zu erhöhen oder die Vermögenssteuer einzuführen, damit starke Schultern mehr tragen als schwache. In NRW wird es im Haushalt 2011 natürlich auch Sparmaßnahmen geben. Aber um es salopp zu sagen: Die Zitrone ist ziemlich ausgepresst, auch in den Kommunen. Prävention ist ein langer Weg, aber er ist der einzig sinnvolle. Das ist unser Maßstab auch bei der aktuellen Hartz IV-Debatte. Wir brauchen kein Bildungspäckchen, sondern einen Pakt für Bildungschancen und gegen Kinderarmut für alle Kinder. Dazu müssten sich Bund, Länder und Kommunen an einen Tisch setzen. Wir brauchen ein Grundangebot für alle Kinder: genug Kitaplätze mit guter Betreuungsqualität, mit Sprachförderung und kostenfrei, in den Schulen mehr Ganztagsplätze und kleinere Klassen mit mehr individueller Förderung, außerdem kostenloses Mittagessen für alle Kinder. Zu diesem Grundpaket für alle Kinder gehört auch Zugang zu Sport und Kultur. Teilhabe für alle muss möglich sein. Man sollte sich darauf einigen, das Kindergeld für einen längeren Zeitraum nicht mehr zu erhöhen, sondern damit lieber diese Strukturen zu finanzieren.
Neue Autobahnen helfen nicht weiter
Sie planen in NRW eine große Mobilitäts-Konferenz. Wieso?
Hannelore Kraft: Weil wir Auswege suchen müssen. Auch hier droht uns die Zeit wegzulaufen. Mobilität ist für mich neben Bildung die zweite zentrale Herausforderung für eine gute Zukunft Nordrhein-Westfalens, besonders aber für das Ruhrgebiet. Hier müssen wir uns heute um Lösungen kümmern, sonst verspielen wir Entwicklungschancen und riskieren einen Verkehrs-Kollaps. Allein der Güterverkehr wird nach Schätzungen um 79 Prozent in den kommenden 15 Jahren zunehmen. Neue Autobahnen helfen da nicht weiter.
Was kann das Land tun?
Hannelore Kraft: Ich sage das ganz ehrlich: Wir haben keine Blaupause und werden deshalb zu einer großen Mobilitätskonferenz einladen, um mit Experten über Lösungen für alle Verkehrsträger zu diskutieren. Außerdem müssen wir alle politischen Kräfte bündeln, um gemeinsam Druck auf Berlin für mehr Verkehrsinvestitionen in NRW zu machen. Wenn in NRW nichts mehr geht, kommt auch Deutschland nicht mehr voran. Auf Landesebene wollen wir den öffentlichen Nahverkehr ausbauen und die Knotenpunkte verbessern, weil die Vernetzung von Straße, Schiene und Wasser verbessert werden muss.