Hagen. .

Ministerpräsidentin Kraft (SPD) will mit den klammen Kommunen dafür kämpfen, dass der Bund den Städten und Gemeinden Lasten abnimmt. Zudem stellte sie im Interview klar: „Rot-Grün lässt sich von der Linkspartei nicht erpressen.“

Die Opposition attackiert Sie als „Schuldenkönigin“, weil sie nicht sparen, sondern zusätzliche Milliarden Euro neue Schulden planen. Trifft Sie das?

Kraft: Nein. Der Nachtragshaushalt 2010 mit einer höheren Neuverschuldung ist die Schlussbilanz der früheren Landesregierung. Sie hat im Wahlkampfjahr absehbare Risiken und Mehrausgaben verschwiegen und weggeschoben. Wir machen mit dieser Politik der Verschleierung Schluss. Für das nächste Jahr werden wir dann die Neuverschuldung senken und gleichzeitig rund eine Milliarde mehr in Kinder, Familien, Bildung und Kommunen in Nordrhein-Westfalen investieren. Ich bin überzeugt, dass wir durch Investitionen in Bildung, Kinderbetreuung und Vorsorge hohe Reparaturkosten einsparen. Wir müssen jetzt den Mut haben, längerfristig zu denken. Der Weg über immer neue Stellenstreichungen im öffentlichen Dienst und Sozialkürzungen führt nicht nachhaltig zu konsolidierten Haushalten. Das hat die Vergangenheit gezeigt.

Der Gegenwind beunruhigt Sie nicht?

Kraft: Das Risiko ist da, dass es politische Widerstände gibt. Aber ich will die Debatte. Wenn wir den Haushalt dauerhaft sanieren wollen, müssen wir vor allem die sozialen Reparaturkosten senken. Der Schlüssel dazu ist, kein Kind mehr zurückzulassen. Das kostet erst einmal Geld. Aber keine Sorge, wir werden 2011 auch Einsparungen im Haushalt vornehmen.

Teilhabe für Kinder auch in Schichten über Hartz IV

NRW setzt im Streit über Hartz-IV auf eine Lösung im Vermittlungsausschuss. Was schwebt Ihnen vor?

Kraft: Ich bin nicht gegen Sachleistungen, wie das auch Ministerin von der Leyen vorschlägt. Ich plädiere aber für einen Grundleistungskatalog für alle Kinder, nicht nur für Kinder aus Hartz-IV-Familien. Dazu gehören ausreichend Kita-Plätze, Ganztagsangebote, ein warmes Mittagessen und der kostenlose Zugang zu Sport und Kultur. Es geht um die Teilhabe für Kinder auch in Einkommensschichten über Hartz IV. Im Gegenzug sollte man künftig auf Kindergeld-Erhöhungen verzichten.

Wie schnell soll umgesteuert werden?

Kraft: Das ist sicher das Endmodell. Aber wir müssen endlich an die Grundstrukturen heran. Wenn wir allen Kindern eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen, sichern wir eine gute Entwicklung Deutschlands für die Zukunft. Wer jetzt investiert, verhindert später auch einen Fachkräftemangel. Ich würde sogar so weit gehen, Schülern auch Sportkleidung und Instrumente zur Verfügung zu stellen, damit sie von Anfang an richtig gefördert werden.

Die Realität sieht anders aus: In viele Schulen regnet es hinein, weil die Kommunen kein Geld haben. Was tun, Frau Kraft?

Kraft: Die Kommunen müssen finanziell besser gestellt werden. Wir kämpfen mit ihnen gemeinsam, dass der Bund endlich seiner Verantwortung gerecht wird und den Kommunen Lasten abnimmt, die Berlin tragen muss. NRW plant darüber hinaus einen Entschuldungsfonds, der 2011 starten soll. Heute werden in armen Kommunen freiwillige Leistungen der vorbeugenden Sozialpolitik gestrichen, das müssen wir ändern. Die Vorbeugung muss schon vor der Kita in der Familie ansetzen. Den Familienzentren fällt hier eine wichtige Aufgabe zu. Wir müssen in die Stadtteile hinein und die Eltern früher erreichen.

Kein Zwang zur Gemeinschaftsschule

Stichwort Gemeinschaftsschule, Streit über das Turbo-Abitur - CDU und FDP warnen vor einem Schulkrieg in NRW. Sehen Sie Wege hin zu einem Konsens?

Kraft: Ich rechne nicht mit einem Schulkrieg. Wir zwingen keine Kommune zur Gründung einer Gemeinschaftsschule. Rot-Grün wird keine Schulform abschaffen. Aber die Entwicklung kommt von unten, vor allem aus den ländlichen Räumen, weil die Gemeinschaftsschule die Chance für ein wohnortnahes Schulangebot bis zum Abitur bietet.

Sie geben den Gemeinschaftsschulen Privilegien wie den Ganztag und kleinere Klassen. Wo bleibt die Gleichbehandlung?

Kraft: Es gibt keine Privilegien, die über den Standard hinausgehen, den die Hauptschulen ebenfalls erhalten.

Sie führen die Gemeinschaftsschule aber als Schulversuch am Landtag vorbei ein, weil sie keine Mehrheit für neue Gesetz haben, oder?

Hannelor Kraft im Gespräch
Hannelor Kraft im Gespräch © WP

Kraft: Nein. Wir wollen erst einmal ausloten, wie stark das Angebot zur Bildung von Gemeinschaftsschulen überhaupt angenommen wird. Es gibt natürlich Grenzen für einen Schulversuch. Wenn sehr viele Schulen mitmachen wollen, werden wir einen Gesetzentwurf einbringen.

Laut Koalitionsvertrag will Rot-Grün bis 2015 rund 30 Prozent der Schulen in Gemeinschaftsschulen umwandeln. Gilt das nicht mehr?

Kraft: Man muss sich Ziele setzen. Wir zwingen aber keinen.

Warum geben Sie keine Garantie fürs Gymnasium – neben einer Gemeinschaftsschule?

Kraft: Wenn Kinder statt in drei immer noch in zwei Schubladen einsortiert werden, schaffen wir nicht die Durchlässigkeit im Schulsystem, die wir brauchen. Schließlich wollen wir mehr junge Menschen zu besseren Abschlüssen bringen. Außerdem soll auch die Gemeinschaftsschule das Abitur anbieten können.

Dialog für die Industrie

Die Opposition wirft Rot-Grün Industriefeindlichkeit vor. Die Grünen torpedieren das Kohlekraftwerk Datteln, die CO-Pipeline wird bekämpft und auch die Flughäfen stehen im Fokus. Kann sich das Industrieland NRW Blockaden erlauben?

Kraft: Die Landesregierung ist ein verlässlicher Partner, wenn es um Industriepolitik geht. Arbeitsplätze in der Industrie sind für NRW unverzichtbar. Deshalb plane ich eine Akzeptanz-Initiative, um einen Dialog in Gang zu setzen. Man muss den Bürgern auch erklären, was es für den Standort NRW bedeutet, wenn Jobs in der Industrie wegbrechen.

Rot-Grün steht zur Industrie?

Kraft: Ja. Aber wir haben nicht nur in NRW ein Akzeptanzproblem. Es gilt insgesamt wieder eine positive Grundstimmung für die Industrie zu erzielen. Dafür müssen wir Betroffene, Politik und Industrie schon in der Planungsphase von Projekten zusammenbringen. Man muss die Bevölkerung mitnehmen, aus Betroffenen Beteiligte machen. Wir haben den Fokus lange Zeit stark auf Fragen wie Luftreinhaltung und Ökologie gerichtet. Das war richtig. Jetzt müssen wir Ökologie und Industrie noch besser vernetzen.

Und Datteln?

Kraft: Die Landesregierung reißt das Kohlekraftwerk Datteln nicht ab. Aber die alte Landesregierung hat bei der Planung viel Murks gemacht. Alle wissen: Am Ende werden Gerichte über den Weiterbau entscheiden.

In Umfragen profitieren die Grünen von der Aufgabenteilung: Grün für saubere Luft, die SPD für die schmutzige Industrie. Stört Sie das nicht?

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Kraft: Ich sehe das nicht so. Rot-Grün geht vernünftig und verlässlich miteinander um. Seit den Atombeschlüssen der schwarz-gelben Bundesregierung sehe ich derzeit auch keine starke Perspektive für schwarz-grüne Bündnisse.

SPD und Grüne in NRW also ein Herz und eine Seele?

Kraft: Es gibt natürlich Meinungsunterschiede. Sonst wären wir ja in einer Partei.

Mehr Schulden, um spätere Kosten zu vermeiden

Und ihr Verhältnis zur Linkspartei? Ohne deren Enthaltung wären Sie nicht Ministerpräsidentin geworden. Brauchen Sie beim Haushalt wieder die Hilfe der Linken?

Kraft: Wir werden selbstbewusst unsere Inhalte zur Abstimmung stellen. Rot-Grün lässt sich nicht von der Linkspartei erpressen. Aber warten wir es doch einmal ab: Ich kann derzeit bei der Opposition insgesamt kein Interesse an Neuwahlen erkennen, so wie die Umfragen stehen. Es hat sich am vergangenen Donnerstag im Landtag gezeigt, dass die Blockademehrheit von CDU, FDP und Linkspartei nicht gestanden hat, weil in allen drei Fraktionen Abgeordnete gefehlt haben. Ich bin für den Haushalt 2011 sehr gelassen.

Der frühere SPD-Chef Franz Müntefering hat das Bonmot geprägt: „Opposition ist Mist“. Sie regieren trotz Minderheitsregierung gern?

Kraft: Regieren macht Spaß, weil man etwas gestalten kann. Ich war ja selbst fünf Jahre in der Opposition.

Der ehemalige NRW- Ministerpräsident Peer Steinbrück beklagt, dass es in der SPD keine Wirtschaftsexperten mehr gibt. Ihr Parteifreund Steinbrück warnt vor Wohlstand auf Pump. Sie aber wollen in NRW Schulden mit neuen Schulden bekämpfen?

Kraft: Wir können eine wirkliche und dauerhafte Konsolidierung der Haushalte nur durch mehr Investitionen in Bildung und soziale Vorsorge erreichen. Wer sich allein auf konjunkturabhängiges Wachstum verlässt, wird scheitern. Ich freue mich über den momentanen Aufschwung in der Wirtschaft. Aber ich bleibe sehr vorsichtig, weil ich noch zahlreiche Risiken weltweit sehe. Wenn wir den Wirtschaftsstandort sichern und nachhaltige Haushaltskonsolidierung betreiben wollen, geht das nur, wenn mehr Kinder bessere Schulabschlüsse machen und wir gleichzeitig spätere soziale Reparaturkosten senken.

Das Gespräch führten Bodo Zapp und Wilfried Goebels