Stuttgart. .
Das bieder brave Stuttgart überrascht beim Kampf um den Bahnhof ganz Deutschland.
Baum Nr. 59 trägt einen Chiffonschal, Baum Nr. 113 eine Blumenkette, Baum Nr. 145 einen Mantel aus Stofftieren, Baum Nr. 108 schwarz. Unter der Blutbuche wird gebetet, unter einer Platane kochen Jugendliche Tee, und an einem rot umwickelten Stamm treffen sich dienstags die Senioren. Hier haben die Bürger von Stuttgart ihre „Schlacht um den Schlossgarten“ geschlagen, so stand es in der Zeitung, hier haben sie zu Zigtausenden demonstriert. Und jetzt stehen sie schon wieder auf diesem „Schlachtfeld“, reden über Verantwortung und an den Absperrgittern mit Polizisten über Moral und Gesetz.
Willkommen in der „Hauptstadt des Widerstands“!
Man kannte Stuttgart bisher als Hauptstadt Baden-Württembergs, als Hauptstadt von Mercedes – und der Kehrwoche. Diese Stadt im Kessel zwischen Weinbergen, die gern ein „Sößle“ des Sowohl-Als-Auch über die Dinge gießt, die nie auffiel durch Protest und auf die noch nie ein Wasserwerfer spuckte, bis Donnerstag: eine Hauptstadt des Widerstands? Eine Schauspielerin des Staatstheaters wiederholt dieses neue Selbstbild; sie geben dort gerade „Was ihr wollt“ und Müllers „Der Bau“. Die Bürger aber wollen diesen Bau nicht, den neuen Bahnhof, der über vier Milliarden kosten soll. Die Bahn hat sie mobil gemacht.
Sie bekämpfen ihn mit „Schwabenstreichen“, sind also laut für eine tägliche Minute und knüpfen grüne Bänder. Es gibt eine Mahnwache, eine Parkwache, die „Baumschützer“, das „Kopf-Hoch-Team“ und hinter ihren Infoständen freundliche Damen, die finden, dass man die Bäume retten muss, die ihnen schließlich „noch der König geschenkt“ hat: „Das macht die Stadt so liebenswert, nicht wahr.“ Hausfrauen heften sich Buttons an feine Filzmäntel, Rentnerinnen kleben Ortsausgangsschilder „Stuttgart 21“ auf lederne Handtaschen, jeder fragt vorher artig nach dem Preis. Ältere Leute stehen beisammen, „bitte den Bahnhof nicht kaputtmachen“, Mütter erklären ihren Kindern, „dass das alles zu weit geht“ – und natürlich sind sie alle bei der Demo gewesen, man erkennt sich an den lehmverklumpten Schuhen: „Seite an Seite, Alt und Jung, toll!“
Pfefferspray in
den Augen
Das also ist das „Protestpersonal“, das der Polizeipräsident gesehen haben will. Das sind „unsere Gegner“, die „altlinken Hetzer“, über die die CDU klagt: Jugendliche, die vorm Bahnsteig zu den Trommeln einer angegrauten Sambatruppe tanzen. Die Frau, die weinend von Mann und Kindern erzählt, deren Augen vom Pfefferspray schmerzen. Die Seniorin, der schon die Tränen kamen, als die Baggerschaufel ihre Zähne in die Nordwand des denkmalgeschützten Bahnhofsgebäudes schlug: „Das isch einfach Schduggard!“ Menschen, die statt Bahnhof lieber Bildung wollen, denen es „egal“ ist, „wie lange ich nach Bratislava brauche“, die um ihren Park fürchten: „Wer Bäume fällt, wird abgesägt!“ Ganz normale „Demonschtranten“ also, „keine Terroristen, Menschen Ihrer Stadt, liebe Politiker“!
Und das ist ja das Problem der Politik, die aus Stuttgart „das neue Herz Europas“ machen will: dass selbst das Bürgertum dabei um dessen Seele fürchtet. „Das Reizgas“, notierte die Süddeutsche Zeitung, „verätzte auch die Schleimhäute der christdemokratischen Klientel.“
Natürlich sitzen da auch ein paar Klischees in den Camps und den Kronen der Bäume, ein paar Langhaarige, Selbstgestrickte, aber (noch) gibt es hier keinen autonomen Block hinter all der Biederkeit. Dass die Staatsgewalt sie so behandelte, haben die Stuttgarter ihr übel genommen; die Bagger mögen sie aufgeschreckt haben, der Wasserwerfer weckte auch die letzten.
Dabei waren davor 17 Jahre Planungszeit ins „Ländle“ gegangen, in dem sie immer behaupten, sie könnten alles außer Hochdeutsch. In diesem Fall hätte es sogar gereicht, wenn die Politik Schwäbisch gebabbelt hätte – verstanden aber hat man einander offenbar auch so nicht. Von einer „beispiellos katastrophalen Kommunikation“ spricht selbst Bahnchef Grube. Jetzt aber sind die ersten Baumriesen im Schlossgarten schon gefallen, Nr.1 bis 25 von fast 300 liegen im Schredder, und Stuttgart singt traurig ein altes Lied: „Mein Freund, der Baum, ist tot.“
Allerdings ist auch vom Grün darunter, in dem im Sommer die Jugend liegt und am frühen Morgen die Störche staksen, nicht viel geblieben: Die Kerzen flackern im Morast, der „Widerstandsbaum“ steht mitten im Matsch, die Masse der Demonstranten hat in den Dreck getreten, wofür sie eigentlich kämpft. Das aber kann der Stuttgarter nun auch wieder nicht haben: Am Wochenende rückt er mit Besen an, die Baumschützer rufen zur „Kehrwoche!“. Noch ist also nicht alles aus den Fugen geraten im Ländle.