Berlin. Horst Köhler ist der alte und neue Bundespräsident. Union und FDP finden prima, dass ihr Kandidat gewonnen hat und deuten dies als leise Vorbotschaft für den Tag der Bundestagswahl. SPD und (die meisten) Grünen sehen das anders. Der Wahltag in der Bundesversammlung im Rückblick.
Wenn die Dinge allzu komisch geraten, hat Norbert Lammert manchmal die besten Momente. Es war so gegen 14.20 Uhr, als der Bundestagspräsident draußen vor dem Reichstag auf den Mann des Tages wartete. Wie der Chefpage eines großen Hotels lief Lammert, leicht errötet wie meistens, vor dem Eingang auf und ab. Aber der alte und neue Präsident, der während des Auszählungsmarathons den Herzort der Demokratie gegen den ausdrücklichen Rat Lammerts einfach Richtung Schloss Bellevue verlassen hatte, kam einfach nicht.
Zu diesem Zeitpunkt hat die Nachricht von Köhlers Punktlandung, 613 Stimmen, keine wenige hätte es sein dürfen, im Innern bereits die Runde gemacht; unter den Journalisten. Drinnen im Saal reagierten viele der 1223 Wahlmänner- und frauen der 13. Präsidenten-Kür irritiert ob der vielen kleinen Pannen dieses Tages, gegen die offenbar keine Regie gefeit ist: Um 14.19 Uhr strömen Musiker, die später fürs Hymnensingen benötigt werden, in den Plenarsaal. Zeitgleich werden Blumensträuße in Stellung gebracht – klare Signale für eine Entscheidung im ersten Wahlgang; aber offiziell passiert nichts. Lammert wartet. Und manch einer wird sauer. Peter Struck (SPD), Lothar Bisky (Linke) und Volker Kauder (Union) etwa verstecken die ihnen kurz zuvor von Saaldienerinnen übergebenen Blumensträuße kurzerhand unter ihren Stühlen.
„Wir mussten auf Nummer sicher gehen“
Erst um 14.26 Uhr biegt Köhlers Limousine um die Ecke und Lammert kann, leicht amüsiert und erstaunlich unaufgeregt, um 14.30 Uhr seines Amtes walten. Sorry, sagt er und erklärt die Warterei: „Wir mussten auf Nummer sicher gehen.“ Ergebnisverkündung: 613 Stimmen, genau die absolute Mehrheit der Bundesversammlung, für Köhler. Stehende Ovationen. 503 Stimmen, elf weniger, als das rot-grüne Lager von 514 Mitgliedern hergibt, für Gesine Schwan, die ziemlich versteinert guckt. Artiger Applaus. 91 Stimmen für den Linkspartei-Kandidaten Peter Sodann, zwei mehr als die 89 Delegierten seiner Partei möglich machen. Der Kandidat der Rechtsextremisten, Frank Rennicke, finden viele, bekommt, was er verdient: die vier Delegiertenstimmen seiner vier Gesinnungsgenossen, keine mehr.
Nehmen Sie die Wahl an?, fragt Lammert. Ja, tu ich, sagt Köhler. Dann geht es Schlag auf Schlag. Gratulation der unterlegenen Kandidaten Gesine Schwan und Peter Sodann. Vier-Minuten-Rede Köhler. Hymne. Ende. Händeschütteln. Geschafft! Vorläufiger Schluss einer Zeremonie, die für die Vertreter aller Parteien morgens um neun mit einem ökumenischen Gottesdienst in der St.-Hedwigs-Kathedrale beginnen sollte.
Antreten zum Zählappell
Der Countdown im Reichstag startet um 11.54 Uhr mit lautem Klingelgeläut. Um 11 bereits füllt sich die Fraktionsebene unter der Reichstagskuppel. SPD, Union, FDP und Linkspartei lassen ihre Leute, sicher ist sicher, zum Zählappell antreten. Bald schon wird allgemeine Vollständigkeit vermeldet. Selbst bei den zehn „Freien Wählern“ (FW) aus Bayern, die am Freitagabend kurz für Aufregung sorgen sollten. Grund: Auf der Fahrt in die Hauptstadt war ein Kleinbus mit Delegierten des selbstbewussten Wählerbündnisses bei Hof wegen einer Panne liegengeblieben. Rechtzeitig am Morgen kommen sie dann doch noch in Berlin an. Um 12 Uhr ist der Saal gefüllt mit 1223 Wahlmännern und -frauen. Einer, der Linkspartei-Delegierte Wolfgang Gehrcke, fehlt wegen eines Herzinfarktes. Auf den Pressetribünen holen die Journalisten ihre Schreibblöcke hervor, die Vertreter des diplomatischen Corps stellen ihre Simultanübersetzungs-Geräte scharf. Es hat das Wort: Norbert Lammert.
Anders als sein Vorgänger Wolfgang Thierse (SPD), der sich beim letzten Mal oft verhaspelte, redet Lammert fehlerfrei. Zehn Minuten nutzt er, um den Wahltag in das große Ganze - 60 Jahre Bundesrepublik - zu rücken, spricht vom Grundgesetz als einer der „großen exemplarischen Verfassungen der Welt“, lobt die Deutschen in Ost und West, die das Grundgesetz erst mit Leben erfüllt hätten. „Das Vertrauen in die beste und freiheitlichste Verfassung, die Deutschland je hatte, ist nicht vom Himmel gefallen“, sagte Lammert, „es ist dem Grundgesetz über die Jahre erst zugewachsen.“ Lammert ist der erste Applaus des Tages gewiss.
Drang zu Buffet und Bundesliga
Um 12.21 Uhr sind die Regularien erledigt. Der erste Wahlgang beginnt. Eine ziemlich unspektakuläre Veranstaltung, bei der 1223 Leute nacheinander blaue Stimmzettel in durchsichtige Urnen stecken und danach eine Stunde lang schwätzend herumstehen, nimmt ihren Lauf. Wie immer zieht sich die Auszählung der Stimmen hin, alphabetisch werden die Mitglieder der Bundesversammlung zur geheimen Abstimmung gerufen. Wer spät drankommt und zum Beispiel Westerwelle heißt, kann sich noch ausgiebig an den vielen Buffets laben oder Mikrofone vollsprechen, die reichlich auf den Gängen aufgebaut sind. Oder das tun, was viele Delegierte mit einer Leidenschaft tun, die man sonst nur von asiatischen Pauschal-Touristen kennt: Sie fotografieren sich gegenseitig, was das Zeug hält; vorzugsweise mit Politprominenz. Man würde gerne wissen, was dazu die drei älteren Herren auf der Tribüne des Bundestages sagen, die aufmerksam zuschauen: Walter Scheel (FDP, 89), Richard von Weizsäcker (CDU, 89) und Roman Herzog (CDU, 75), allesamt Alt-Bundespräsidenten.
Wer in die Gespräche auf den Wandelgängen hineinlauscht, hört bis 13 Uhr zwei Standard-Erwartungen: a) dass die Sache doch bitteschön im ersten Wahlgang über die Bühne gehen möge, weil man nämlich dann b) rechtzeitig zum Start des allerletzten Bundesligaspieltags gemütlich vor dem Fernsehschirm sitzen könne. Ganz besonders hibbelig tut Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU). „Hoffentlich kann ich den Zug nach Wolfsburg um 15.48 Uhr erreichen“, lässt er die Medien wissen.
Eklat noch am Freitagabend
Dass Wulff und anderen ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung ging, es mag wohl auch an den Grünen gelegen haben. Etliche der zehn Enthaltungen, zwei Stimmen waren ungültig, gingen auf ihr Konto, hieß es aus Fraktionskreisen. Hauptverantwortlich dafür wird ein Eklat gemacht, der sich zwischen Gesine Schwan und der Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Marianne Birthler, am Freitagabend zugetragen haben soll, die zu den Grünen-Delegierten gehörte. Thema: Schwans ebenso umstrittene wie verkürzt kolportierte Äußerung, die DDR sei aus ihrer Sicht kein Unrechtsstaat gewesen.
Während viele Delegierte nach der Wahl zügig zur Tagesordnung übergingen, sprich: ans Buffet oder ab nach Hause, spulten die Parteivorderen das gewohnte Stimmen-zum-Spiel-Spiel vor Kameras und Mikrofonen ab. Wichtigste Aussagen: Union und FDP finden prima, dass ihr Kandidat gewonnen hat und deuten dies als leise Vorbotschaft für den Tag der Bundestagswahl. SPD und (die meisten) Grünen finden ihre Kandidatin immer noch prima und sagen, dass die Bundestagswahl eine völlig andere Baustelle wird. Da wurde der Bundespräsident schon etwas konkreter: „Ich verspreche, ich werde weiterhin mein Bestes geben.“