Düsseldorf. Der Fund eines gefährlichen Weichmachers im Urin von Kindern wird zum Politikum. Hat die NRW-Regierung den Fall geheim gehalten? Was bekannt ist.

Toxikologen in Deutschland und den EU-Staaten suchen weiter fieberhaft nach der Herkunft eines verbotenen Weichmachers, der nach aktueller Einschätzung im Urin von Millionen Menschen nachgewiesen werden kann. In NRW, wo die Spuren der hormonschädigenden Chemikalie zuerst entdeckt wurden, werden Vorwürfe laut, die Landesregierung habe die Funde über Wochen und Monate geheim gehalten. Nun wehren sich die Experten, die den Fall an die Öffentlichkeit gebracht haben.

„Ich verstehe diese Debatte nicht. Als ob Behörden hier etwas zurückhalten wollen“, sagte Martin Kraft, Leiter des Fachbereichs Umweltmedizin im Landesamt für Natur, Umwelt und Verbraucherschutz (LANUV), dieser Redaktion. „Im Gegenteil, wir waren diejenigen, die in die Offensive gegangen sind. Aus gutem Grund“, so Kraft. „Denn wir führen diese langjährigen Studien mit Kindergartenkindern deswegen durch, weil wir herausfinden wollen, ob es Auffälligkeiten gibt.“ Das LANUV untersucht seit 2011 alle drei Jahre den Urin von 250 Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren auf Schadstoffe wie Weichmacher, Konservierungsstoffe oder Pestizide.

SPD-Fraktion im NRW-Landtag: Landesregierung hat Funde verschwiegen

Die SPD im Landtag wirft der schwarz-grünen Landesregierung vor, bereits seit vier Monaten über die Funde des Weichmachers im Urin von Kita-Kindern gewusst, aber weder den Landtag noch die Öffentlichkeit informiert zu haben. „Wir haben es hier mit einem verbotenen Phthalat-Weichmacher-Metaboliten zu tun, der das Hormonsystem schädigen kann“, kritisierte Thorsten Klute, gesundheitspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion im Landtag. Dort werden die Weichmacher-Funde am heutigen Nachmittag in der Sitzung des Gesundheitsausschusses erstmals zum Thema.

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Das NRW-Umweltministerium bestätigt vorab, bereits am 19. Oktober durch einen LANUV-Bericht vom Fund der Substanz erfahren zu haben. In dem Report berichtete die Fachbehörde, dass bei einer Nachuntersuchung der Urinproben von Kita-Kindern aus den Jahren 2020/21 ein Abbauprodukt (Metabolit) des Weichmachers DNHexP gefunden worden sei. Ohne Zweifel ein als gefährlich eingestufter Stoff, der seit Jahren in der EU verboten ist. Am 31. Januar 2024 informierte das Umweltministerium dann erstmals die Öffentlichkeit über den Fund.

Seit 2011 untersucht die Fachbehörde LANUV alle drei Jahre den Urin von 250 Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren auf Schadstoffe wie Weichmacher, Konservierungsstoffe oder Pestizide.
Seit 2011 untersucht die Fachbehörde LANUV alle drei Jahre den Urin von 250 Kindern im Alter von zwei bis sechs Jahren auf Schadstoffe wie Weichmacher, Konservierungsstoffe oder Pestizide. © dpa | Bernd Thissen

Dass in den vier Monaten Ergebnisse verschleppt oder verschwiegen worden seien, weisen die Toxikologen des LANUV entschieden zurück. Vielmehr als die Gewissheit, dass da ein dicker Fisch im Netz zappelte, habe man bis Jahresende 2023 nicht gewusst, argumentiert die Fachbehörde. Yvonni Chovolou, Toxikologin und Leiterin der Kinder-Studie des LANUV, verweist auf Datenlücken: „Wir hatten nichts: keine Erfahrungswerte, kein Profil dieses Stoffes. Das musste alles gesammelt und gesichtet werden, um zu einer gesicherten Einschätzung zu gelangen“, sagt sie. „Wir haben es mit einer Substanz zu tun, die wir vorher nicht in unserem Portfolio hatten. Wer mit der Arbeit im Labor zu tun hat, weiß: Das alles braucht Zeit.“

Erst Mitte Dezember habe man belegen können, dass sich die Messwerte in den Urinproben von Kindern aus 2020/21 innerhalb weniger Jahre teils verzehnfacht hatten. Am 14. Dezember habe das Referenzlabor von Holger Koch in Bochum die Vergleichswerte der Proben aus 2017/18 geschickt. „Wir haben in den nächsten Tagen viele Überstunden gemacht, um diese Ergebnisse auszuwerten. Erst dann konnten wir einschätzen, dass die Belastung stark zugenommen hat“, erinnert sich Martin Kraft. „Am 19. Dezember, nur fünf Tage später, haben wir unseren Bericht an das Umweltministerium geschickt. Aus meiner langjährigen Berufserfahrung kann ich sagen: Wir waren richtig schnell“, so Kraft.

Herkunft der rätselhaften Chemikalie ist nach wie vor unbekannt

Weder in den Wochen bis zur Information des NRW-Umweltministeriums Ende Januar 2024 noch bis zum heutigen Tag ist es den Toxikologen in Deutschland gelungen, die Quelle der Belastungen zu finden. Nach wie vor ist unklar, wie groß die gesundheitlichen Risiken für die Bevölkerung sind, ab welchem Wert etwa von einer schädlichen Wirkung auszugehen ist. Erst im April will eine Expertenkommission des Umweltbundesamtes darüber beraten.

Immer noch gleicht die Fahndung nach dem Weichmacher einem Kriminalfall. „Wir suchen nach einer Muttersubstanz, die uns Rätsel aufgibt“, sagt LANUV-Toxikologin Chovolou. „Unsere Hypothese war bislang immer, dass es den typischen Weichmacher gibt, der im Körper zu diesem Stoff abgebaut wird. Das passt aber in diesem Fall nicht. Wir finden das Abbauprodukt, aber wir finden keine Produkte mit der Muttersubstanz“, sagt sie. Chovolou hofft darauf, mehr Daten zu erhalten, um dieses Puzzle zusammen zu fügen: „Ich denke, dass die Chemische Industrie hier eine wichtige Informationsquelle sein kann. Hersteller von Chemikalien stehen in diesem Fall mit in der Verantwortung.“

Weichmacher – ein Verkaufsschlager der chemischen Industrie

Weichmacher (Phthalate) sind ein Verkaufsschlager der chemischen Industrie. Sie werden zugesetzt, um Materialien weich, biegsam oder dehnbar zu machen, etwa Kabel, Lebensmittelverpackungen, Fußbodenbeläge, Tapeten, Sport- und Freizeitartikel oder Kinderspielzeug. Auch in Kosmetik können sie enthalten sein. Phthalate dünsten aus, werden hauptsächlich eingeatmet, bei Kleinkindern vor allem aber im Mund aufgenommen.

In NRW war bei Nachuntersuchungen von Urinproben zwei- bis sechsjähriger Kinder ein Abbauprodukt des verbotenen Weichmachers Di-n-hexyl-Phthalat (DnHexP) gefunden worden. Auch in der noch laufenden 6. Deutschen Umweltstudie waren etwa 37 Prozent der Proben von Erwachsenen belastet. DnHexP zählt zu den Phthalaten, die auf das Hormonsystem des menschlichen Körpers wirken und die männliche Fruchtbarkeit schädigen können. Auch soll er für Schwangere und Ungeborene gefährlich sein. DnHexP ist seit 2013 in Europa verboten. Ein Nachweis dieser Substanz ist erst seit 2019 möglich. Entwickelt wurde die Methode im Labor des Instituts für Prävention und Arbeitsmedizin (IPA) der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung in Bochum, das von Holger Koch geleitet wird.