Essen. Der Fund einer verbotenen Chemikalie im Urin von Kindern weitet sich aus. Erwachsene in ganz Deutschland und Dänemark sind belastet. Die Details.
- Im Urin von Kleinkindern in NRW sind Rückstände eines gefährlichen Weichmachers gefunden worden. Der Stoff ist eigentlich seit Jahren in der EU verboten
- Das Umweltbundesamt schlägt nun europaweit Alarm. In ganz Deutschland und auch in Dänemark ist der Weichmacher bei Erwachsenen festgestellt worden
- Die Herkunft des Stoffes ist nach wie vor ungeklärt, die Behörde hat aber eine erste Spur
Nach dem Fund eines seit Jahren verbotenen Weichmachers im Urin nordrhein-westfälischer Kinder schlägt das Umweltbundesamt (UBA) jetzt europaweit Alarm. Der Stoff, der die Fruchtbarkeit schädigen soll, ist auch bundesweit im Blut und Urin Erwachsener nachgewiesen worden, bestätigte die Behörde auf Anfrage dieser Redaktion. Auch in Dänemark sei dieser Weichmacher in Proben aufgetaucht. Das Umweltbundesamt spricht von einem ernsten Problem, für das es noch keine Erklärung gebe. Das UBA hat die EU-Behörden nun gebeten, in der Bevölkerung aller EU-Staaten nach diesem problematischen Stoff zu suchen.
Umweltbundesamt: Gefährliche Weichmacher verstärken als Mischung ihre Wirkung
„Wir nehmen diese Belastung sehr ernst, denn der Fund dieses Stoffes ist eine wirklich heikle Sache“, sagte die Toxikologin Marike Kolossa, die im Umweltbundesamt das Fachgebiet Toxikologie und gesundheitsbezogene Umweltbeobachtung leitet. „Wir wissen, dass diese fortpflanzungsgefährdenden Phthalat-Weichmacher additiv wirken, sich also als Mischung in ihrer Wirkung verstärken können“, so Kolossa. „Vier dieser gefährlichen Weichmacher sind mittlerweile in Europa verboten. In Untersuchungen stellen wir jedoch fest, dass die Belastung in einem Teil der Bevölkerung immer noch zu hoch ist. Wenn nun ein neuer Gefahrstoff dazukommt, erhöht es natürlich diese Gesamtwirkung.“
Die Toxikologin leitet die momentan laufende 6. Deutsche Umweltstudie zur Gesundheit (GerES). Dabei werden bundesweit Urin- und Blutproben untersucht. „Eines der ersten Ergebnisse ist, dass dieser Stoff in ungefähr 37 Prozent der Proben aufgetaucht ist“, berichtete Kolossa. „Wir sind daher sicher, dass die Funde dieses Stoffes in NRW sich nicht etwa auf Kinder einer Region beschränken, sondern ein flächendeckendes Problem darstellen und alle Altersklassen der Bevölkerung betreffen.“
Die festgestellten Werte sind laut der Toxikologin besorgniserregend: „Wir haben eine erste, grobe toxikologische Abschätzung der Belastung erstellt. Dabei haben wir einzelne Belastungen festgestellt, die für diesen Einzelstoff so hoch sind, dass wir gesundheitliche Risiken nicht mehr mit ausreichender Sicherheit ausschließen können.“
Funde in NRW: Konzentration im Urin von Kleinkindern hat sich verzehnfacht
Weichmacher (Phthalate) sind ein Verkaufsschlager der chemischen Industrie. Sie werden zugesetzt, um Materialien weich, biegsam oder dehnbar zu machen, etwa Kabel, Lebensmittelverpackungen, Fußbodenbeläge, Tapeten, Sport- und Freizeitartikel oder Kinderspielzeug. Auch in Kosmetik können sie enthalten sein. Phthalate dünsten aus, werden hauptsächlich eingeatmet, bei Kleinkindern vor allem aber im Mund aufgenommen.
In NRW war bei Nachuntersuchungen von Urinproben zwei- bis sechsjähriger Kinder der Weichmacher Di-n-hexyl-Phthalat (DnHexP) gefunden worden. Die Proben stammten aus den Jahren 2020/2021. Im Vergleich zur Probereihe 2017/2018 habe sich die Konzentration des Stoffes bei hochbelasteten Kindern verzehnfacht. In 61 Prozent der Proben sei der Stoff nachgewiesen worden
UBA-Toxikologin Kolossa: „Nun ist etwas eingebrochen. Wir wissen nicht, woher es kommt“
DnHexP zählt zu den Phthalaten, die auf das Hormonsystem des menschlichen Körpers wirken und die männliche Fruchtbarkeit schädigen können. Auch soll er für Schwangere und Ungeborene gefährlich sein. DnHexP ist seit 2013 in Europa verboten. Somit hätte er nun bei Kindern im Kita-Alter nicht mehr nachweisbar sein dürfen. Die gesundheitliche Bewertung der Funde werde nun die Human-Biomonitoring-Kommission des Umweltbundesamtes vornehmen, kündigte Kolossa an. Diese Kommission setzt sich aus externen, unabhängigen Expertinnen und Experten zusammen.
Woher aber der Stoff stammt, ist nach wie vor ungeklärt. Die Bundesbehörde wie auch das Landesumweltamt in NRW (LANUV) stehen nach eigener Aussage vor einem Rätsel. „In unserem Netz ist unerwartet ein Stoff hängen geblieben, von dem wir annahmen, dass er nicht da sei“, sagte UBA-Expertin Kolossa. „Wir wissen, dass bestimmte in Europa nicht zugelassene, also verbotene Stoffe etwa in Brasilien oder den USA eingesetzt werden. Und wir wollten mit einem Frühwarnsystem kontrollieren können, ob diese Stoffe womöglich nach Deutschland herüber schwappen. Nun ist tatsächlich etwas eingebrochen. Und wir wissen nicht, woher es kommt.“
Speziallabor in Bochum soll klären, ab wann der Weichmacher aufgetaucht ist
Die Spurensuche sei im vollen Gange, so Kolossa. „Aus meiner Sicht ist es ein echter Krimi“. Es gebe eine erste Vermutung, aus welcher Stoffgruppe der Weichmacher stammen könne. „Doch es ist zu früh, um unseren Verdacht öffentlich zu machen.“ Momentan untersuche ein Speziallabor in Bochum Proben, um abzuklären, ab wann der Stoff aufgetaucht ist. „Wir haben Hinweise darauf, dass er schon vor 2018 in Urinproben von Menschen aus Deutschland in Erscheinung getreten ist - also früher als bislang von uns zuerst angenommen.“
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Die Regulierung oder ein Verbot von Chemikalien ist Aufgabe der EU. Das Umweltbundesamt habe daher Kontakt mit der EU-Chemikalienbehörde ECHA und der Europäischen Umweltbehörde EEA aufgenommen, sagte Kolossa. „Wichtig ist, dass nun europaweit nach diesem Stoff gesucht wird. Wir müssen gerichtsfeste Daten haben. Es müssen nun knallharte Daten auf den Tisch, denn wir müssen nun dringend herausfinden, welche Empfehlung wir der Bevölkerung geben können.“
Umweltbundesamt bittet Bevölkerung bei der Spurensuche um Mithilfe
Bei der Spurensuche seien die Behörden auch auf die Mithilfe der Bürgerinnen und Bürger angewiesen, sagte die UBA-Expertin. „Noch bis Herbst schreiben wir im Rahmen der Deutschen Umweltstudie zur Gesundheit zufällig ausgewählte Personen im Namen des Umweltbundesamtes an und bitten sie um eine Urin- und Blutprobe sowie um das Ausfüllen von Fragebögen. Doch leider bleiben unsere Anschreiben manchmal unbeantwortet“, sagte Kolossa.
In den Bögen fragen die Toxikologen nach Essgewohnheiten der Angeschriebenen, welche Kosmetika oder Waschmittel sie nehmen oder wie oft sie Plastiktüten benutzen. „In den Ergebnissen und Antworten hoffen wir, Zusammenhänge zu finden“, verdeutlicht Kolossa. „Dieser Fall zeigt uns einmal mehr, wie sehr uns Informationen aus der Bevölkerung helfen könnten, diese Geschichte aufzuklären und das Ganze zu einem guten Ende zu bringen.“
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