Essen. Essen gilt als Hochburg der islamisch-konservativen AKP. Erdogan und seine Freunde schauen deshalb besonders aufs Revier. Es wird spannend.
Wenn ich an die Zukunft denke, die wir unseren Kindern hinterlassen, dann kommt in mir auch immer die Frage auf, wie stabil Freiheit und Demokratie hierzulande eigentlich sind. Allein in Europa tummeln sich mehrere Autokraten und Diktatoren, nur wenige Flugstunden von uns entfernt. Recep Tayyip Erdogan ist einer der prominentesten von ihnen. Je länger er an der Macht ist, desto mehr entfernt er die Türkei von den Grundprinzipien der Demokratie und damit auch von der westlichen Wertegemeinschaft. Die Wahlen am Sonntag sind darum Schicksalswahlen, für die Türkei und für Europa. Der Gedanke, dass für den Despoten vom Bosporus ausgerechnet aus dem Ruhrgebiet der entscheidende Rückenwind kommen könnte, ist schwer erträglich.
Tatsache ist, dass aufgrund des von einigen Demoskopen prognostizierten Kopf-an-Kopf-Rennens um die Macht in der Türkei die Stimmen der Auslandstürken das Zünglein an der Waage bilden könnten. Mehr als fünf Prozent der rund 64 Millionen Wahlberechtigten leben im Ausland, 1,5 Millionen von ihnen in Deutschland, davon wiederum eine halbe Million in NRW. Traditionell gelten die Städte des Ruhrgebiets als Erdogan-Hochburgen; 2018 erhielt Erdogans islamisch-konservative AKP in Essen mit 76,3 Prozent das beste Ergebnis unter allen türkischen Konsulaten in Deutschland.
Noch alle Teegläser im Schrank?
76,3 Prozent! Da möchte man die Fehlgeleiteten am liebsten fragen: Habt Ihr noch alle Teegläser im Schrank? (Auf Türkisch, wörtlich: Cay bardaklariniz hepsi dolaptami?)
Leider ist zu befürchten, dass es wieder ähnlich ausgeht – trotz des wirtschaftlichen Niedergangs in der Türkei und des Regierungsversagens nach dem verheerenden Erdbeben mit 51.000 Todesopfern im Südosten des Landes. Am meisten fürchten jene Deuschtürken das Wahlergebnis, denen Erdogan ein Graus ist, die ihn ablehnen, die genau verstanden haben, was er anrichtet. Erdogan polarisiert, Erdogan spaltet.
Die meisten früheren Gastarbeiter stammen aus dem frommen Anatolien und damit aus einem bildungsfernen, AKP-nahen Milieu. Sie sind ihrer Tradition verhaftet, man könnte auch sagen: in ihr gefangen. Was viel mehr irritiert, ist das Verhalten ihrer Nachkommen, jener also, die in Deutschland geboren wurden und hier aufgewachsen sind, die aufgeklärter sein sollten als ihre Väter und Mütter, Omas und Opas. Doch auch die dritte Generation wählt bislang mehrheitlich Erdogan.
Die WAZ ist außen vor
Professor Burak Copur leitet das „Zentrum für Radikalisierung und Prävention“, das nicht ganz zufällig in Essen sitzt. „Essen ist eine Hochburg der AKP in Deutschland“, sagt er und ergänzt im Hinblick auf die jüngere Generation: „Sie machen Erfahrungen von Diskriminierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und suchen Halt beim großen und starken Führer wie Erdogan.“ Dessen Propaganda erreiche durch die regierungstreuen türkischen Medien die Familien auch hierzulande bis in ihre Wohnzimmer. Deutsche Medien wie die WAZ finden dort eher nicht statt.
Wenn es das nur wäre. Die vom türkischen Staat gelenkten Ditip-Moscheen in Deutschland und im Ruhrgebiet machen mehr oder weniger verdeckten Wahlkampf für Erdogan. Sie mobilisieren und haben ihren Anteil daran, dass die Schlangen der Wähler vor den türkischen Konsulaten diesmal besonders lang waren. Große Wahlkampfveranstaltungen von Politikern aus dem Nicht-EU-Ausland in Deutschland sind verboten, nachdem Erdogan 2014 in der Kölner Lanxess-Arena ungeniert gesagt hatte, die Deutschtürken hierzulande dürften sich zwar integrieren, aber nicht völlig anpassen. Aber auf den Hinterhöfen, in Duisburg zum Beispiel, da läuft er auf Hochtouren, der inoffizielle Stimmenfang der AKP-Anhänger. Von Wechselstimmung keine Spur in Marxloh und Co.
Integration ist keine Einbahnstraße
„Es ist tragisch, dass so viele junge Menschen in einem freiheitlich-demokratischen Land einen Autokraten wählen“, sagt Burak Copur. Es ist tragisch, ja. Man kann es erklären, man kann es verstehen. Zu viel Verständnis aufbringen möchte ich für dieses Verhalten aber nicht. Die Vorzüge von Demokratie und Freiheit hierzulande zu genießen, um dann für ein autokratisches System zu stimmen, ist nicht akzeptabel. Wer sich so mit wehenden türkischen Fahnen außerhalb unserer Gesellschaft stellt, muss sich nicht über mangelnde Integration beklagen.
Denn Integration ist keine Einbahnstraße. Deutschland muss fördern und fordern, es hat eine Bringschuld. Aber die Deutschtürken haben auch eine Holschuld. Wer aus Protest die AKP wählt, wird den Teufelskreis aus mangelndem Integrationswillen und Ausgeschlossensein nicht durchbrechen.
Drei von vier Wähler für die AKP
Spannend ist übrigens, wie unangenehm dieses Thema jenen ist, die sich als Linke verstehen und – was ich ja grundsätzlich sympathisch finde – sonst mit Verve auf die AfD hauen und auf jeden, der die Rechtspopulisten wählt. Aber wenn es dann Menschen mit Migrationshintergrund sind, die AfD-ähnlichen Parteien zuneigen, dann soll man Verständnis aufbringen, dann ist das nicht so schlimm; dann solle man differenzieren, es seien ja nicht alle so. Nein, nein, so funktioniert das nicht. Differenzieren ist ok, aber die Zahlen sprechen eine klare Sprache.
76,3 Prozent. Hoffentlich sind es diesmal weniger. Da die Stimmen in der Türkei ausgezählt werden, wird es dauern, bis wir schlauer sind.
Auf bald.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.
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