Essen. Wladimir und sein Freund Gerd lügen, dass sich die Balken biegen. Doch sie hatte Kanzler Scholz nicht zuerst im Visier, als er in Mülheim war.

Der Bundeskanzler kommt nicht jeden Tag nach Mülheim, schon gar nicht unter so bizarren Umständen. Das gilt auch für die meisten Kolleginnen und Kollegen der überregionalen Medien, die er im Schlepptau hatte. Da kann man schon einmal großzügig darüber hinwegsehen, dass die ehrwürdige „Frankfurter Allgemeine“ in ihren Berichten prompt wiederholt behauptete, Olaf Scholz sei in „Mühlheim“ gewesen – Mühlheim mit „h“! Da rollen sich dem Ruhri (auch mit „h“) eigentlich die Fußnägel hoch. Aber das Thema, um das es hier ging und weiter geht, ist zu ernst, um sich an solchen Kleinigkeiten aufzuhängen.

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Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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Was also wollte Scholz in Mülheim? Es liegt auf der Hand, was er NICHT wollte: den russischen Präsidenten Wladimir Putin beschämen, indem er ihn einer Lüge überführt. Denn das ist praktisch unmöglich. Es hat sich ja, für jeden erkennbar, gezeigt, dass Putin das Schamgefühl eines Massenmörders besitzt – also keins. Putin pfeift auf alle internationalen Gepflogenheiten und Verträge; er droht der Welt offen mit einem alles vernichtenden Atomkrieg; vor allem aber bringt er täglich ungerührt unfassbares Leid über unschuldige Frauen, Männer und Kinder. Und mit Putins Lügen verhält es sich so: Sie sollen nicht täuschen, sondern „nur“ demütigen. Denn Putin weiß, dass der vermeintlich Belogene weiß, dass es sich um offenkundige Lügen handelt. Sie sind so selbstentblößend, so klar, dass es im Grunde nichts zu überführen gibt.

Putins Lügen wirken wie ein süßes Gift

Trotzdem, und das ist das Perfide daran, entfalten sie eine giftige Wirkung. Es ist wie bei den Querdenkern und Quacksalbern in der Pandemie: Der größte Unsinn fällt auf fruchtbaren Boden, wenn die Menschen daran glauben wollen, weil die ihnen angebotenen „alternativen Fakten“ besser schmecken als die bittere Wahrheit. Nein, ich will meine Kontakte nicht reduzieren, ich will feiern, unter Menschen sein; Corona ist nur eine Art Erkältung. Und nein, ich will nicht meine Heizung herunterdrehen und lauwarm statt heiß duschen müssen; die Gaskrise ist selbstverschuldet, weil wir die Russen so schlecht behandeln.

Es wäre schön, wenn die Deutschen wie ein Mann oder eine Frau hinter unserer Bundesregierung stünden. Wir lassen uns nicht erpressen, wir sind stark, wir sind einig, sollte die Botschaft von Mülheim sein. „Wir schaffen das“, hat Scholz am Mittwoch zwar nicht gesagt, aber durchaus gemeint. Das Blöde ist nur: Die Deutschen sind gespalten. Auch jetzt gibt es wieder eine bedenkliche Querdenker-Fraktion, die sich um den brutalen Angriffskrieg Putins nicht scheren will und die Sanktionen für einen Fehler hält, weil sie nicht nur Russland schaden, sondern zunächst auch uns selbst. Dass es um höhere Werte geht, um die europäische Friedensordnung, die uns bislang ein Leben in Freiheit und Wohlstand beschert hat, dass der Schaden, der entstünde, würden wir Putin alles durchgehen lassen, unermesslich größer wäre, das können und/oder wollen sie nicht sehen.

Wie tief kann Schröder noch sinken?

Scholz war nicht in Mülheim, um Putin zu bekehren oder irgendwie zu beeindrucken. Scholz hatte uns im Blick, uns alle – und nebenbei einen Noch-Parteifreund, seinen Vor-Vorgänger im Kanzleramt.

Ob Gerhard Schröder noch alle Tassen im Schrank hat, alle Latten am Zaun, alle Zinken an der Gabel, das darf ja schon länger bezweifelt werden. Aber sein jüngstes Interview im „Stern“ ist so ziemlich das Abgründigste, was man zuletzt von ihm lesen oder hören konnte. Wie tief kann man als ehemaliger international respektierter Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland eigentlich sinken?

Maximale Scheinheiligkeit

Nein, von Putin wolle er sich nicht distanzieren, wozu auch, gab Schröder zu Protokoll. Die, so wörtlich, „gute Nachricht“ sei, dass Putin eine Verhandlungslösung wolle. Man meint, beim Lesen süßliche Geigentöne zu vernehmen, während ein Anflug von Übelkeit die Speiseröhre hochkriecht. Warum die Gasturbine jetzt in Mülheim sei und nicht in Russland, verstünde er nicht, schrödert es einem aus dem Stern entgegen. Und dass nur 20 Prozent der maximalen Gasmenge durch Nord Stream 1 fließe, liege „in der Verantwortung von Siemens“, sagt Schröder weiter und relativiert nur zum Schein mit dem Nachsatz: „Wenn ich das richtig sehe.“ Es klingt Schröder-typisch jovial und ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten.

Und dann kommt das Mieseste schlechthin, denn der Ex-Kanzler und Putin-Freund hat natürlich einen guten Rat im Gepäck. Wie wäre es denn damit, Nord Stream 2 zu öffnen? Dann könnte doch genug Gas fließen, keiner müsste frieren und alle wären glücklich. Man kann gar nicht so viel essen, wie man ...

Der Kanzler a.D. ist ein Verräter

Ernsthaft: Wann hat ein ehemaliger deutscher Regierungschef sein Land je derart verraten? Schröder kämpft im Wirtschaftskrieg gegen Russland an der Seite des Kriegsverbrechers Putin. Es ist ein glatter Verrat, der über „parteischädigendes Verhalten“ weit hinausgeht, liebe Schiedskommission des SPD-Unterbezirks Hannover.

Nord Stream 2 brauchen wir schon deswegen nicht, weil die angeblichen technischen oder bürokratischen Hürden für eine Vollauslastung von Nord Stream 1 nicht existieren. Das weiß Putin, das weiß Schröder, jeder weiß es. „Die Turbine ist da, sie kann geliefert werden“, sagte Scholz in Mülheim. Seine Botschaften waren einfach, klar. Es müsse nur einer sagen: „Bitte, schickt sie uns“, fügte der Kanzler scholzig lächelnd hinzu, sah die blitzeblank polierte Maschine für seine Verhältnisse geradezu liebevoll an und berührte sie so sanft, dass man schon fast meinte, zwischen ihr und dem „Scholzomaten“ eine Art erotisches Knistern wahrzunehmen, das sich auf das ganze Land übertragen möge. Es war ein Moment der Hoffnung in düsteren Zeiten.

Mülheim – ohne „h“ bitte!

Die FAZ hat ihren Fehler übrigens inzwischen bemerkt und zumindest online aus Mühlheim Mülheim gemacht. Mühlheim ist eine Stadt mit rund 28.000 Einwohnern am linken Mainufer in Hessen. Internationale Politik gemacht wird allerdings in unserem Mülheim. Das liegt an der Ruhr, und das ist auch gut so.

Auf bald.