Essen. Wer so offen lügt wie Russlands Diktator, will das kulturelle Fundament freier Gesellschaften zerstören. Wie funktioniert die Lüge als Waffe?

In Russland laufen in diesen Tagen viele Menschen herum, denen sprichwörtlich Nudeln über den Ohren hängen. Nach einer alten russischen Redewendung hängt derjenige, der irreleitet und dreist belügt, dem so hinters Licht Geführten Nudeln über die Ohren. In Karikaturen ersetzen Spaghetti die Haare der Belogenen. Eine komische Vorstellung ist das, bei der mir das Lachen augenblicklich im Halse stecken bleibt. Denn der russische Diktator Wladimir Putin wirft leider nicht nur mit Nudeln um sich. Seine Lügen sind Teil der Kriegsführung nach innen wie außen. Sie sollen manipulieren, unterdrücken, das Gegenüber abwerten, ihm die Würde nehmen. Lügen sind Gewalt. Nicht umsonst wird schon in der Bibel der Teufel als Vater der Lüge bezeichnet.

Der Begriff „Militärische Spezialoperation“ ist schon für sich eine Lüge, ein Euphemismus, der verschleiern soll, um was es sich in Wahrheit handelt: einen blutigen Krieg, der Leid und Elend über die Ukrainer bringt. Putin gefällt sich darin, dem Nachbarland in langen Monologen seine Souveränität abzusprechen, ihm zu unterstellen, mit Hilfe von Atomwaffen Russland bedrohen zu wollen. Die Ukraine müsse darum „entmilitarisiert“ werden, und, krasser noch, „entnazifiziert“.

„Putin, wovor hast Du Angst?“

Entnazifiziert? Die ukrainische Regierung ist eine demokratisch gewählte. Faschistoid ist allein das Regime im Kreml, das ein freies Land unterwerfen will. Paranoid ist es zudem. Es ist schon bezeichnend, wie ein äußerlich furchtlos wirkender ukrainischer Präsident Selenskyj Putin zu direkten Gesprächen mit ihm aufgefordert hat. Zitat: „Ich beiße nicht. Ich bin ein ganz normaler Typ. Setz Dich zu mir, sag mir, wovor Du Angst hast.“

Man stelle sich das vor: Der Ukrainer, der versucht, sich mit Molotow-Cocktails gegen die hochgerüsteten Aggressoren zu wehren, will dem russischen Diktator, der mit einem Knopfdruck ganze Städte vernichten kann, die Angst nehmen. Das ist wieder so ein vermeintlich komischer, in Wahrheit aber todernster Moment, finde ich. Wie klein dieser Putin doch wirkt.

Agitation und Propaganda haben eine lange Tradition

Das einzig Wahre an diesem ebenso feigen wie skrupellosen russischen Machthaber ist seine Verlogenheit. Er setzt mit seinen Lügenkampagnen freilich eine unrühmliche russische Tradition fort. So galten die angeblichen und dann auch als Fälschung nachgewiesenen „Protokolle der Weisen von Zion“ bereits vor 120 Jahren als eine Art Staatspropaganda Russlands. Thematisiert wurde die „Weltverschwörung der Juden“ – eine glatte Lüge, die sich lange hielt und in antisemitischen Kreisen auch heute noch weiter verbreitet wird.

„Agitprop“ ist ein Kunstwort aus Agitation und Propaganda und wurde 1920 im Sowjetrussland von den Bolschewisten auf allen Ebenen etabliert. Verpeilte Leninisten, die in Deutschland politisch zum Glück keine ernstzunehmende Rolle spielen, sind noch heute stolz darauf. Was sie gerne übersehen: Die Organisation schlagkräftiger Desinformationskampagnen diente später auch als Blaupause für Joseph Goebbels und das Nazi-Regime. Rechts- und Linksextremisten sind oft näher beieinander, als ihnen selbst lieb sein dürfte – und das schreibe ich durchaus in dem Bewusstsein, dass einige (wenige) Leser jetzt vermutlich Schaum vorm Mund haben. Sei es drum.

Nicht jede Lüge ist eine Als-ob-Wahrheit

Wahrheit und Demokratie sind zwei Seiten derselben Medaille. Darum fürchten Anti-Demokraten die Wahrheit. Allerdings heißt das nicht, dass demokratisch gewählte Regierungen immer nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit sagen. Das anzunehmen wäre reichlich naiv. Erinnert sei nur an die US-Regierung unter Präsident Georg W. Bush, die unter dem Vorwand, der irakische Diktator Saddam Hussein bedrohe die Welt mit Massenvernichtungswaffen, 2003 einen Krieg begann. Auch das war eine glatte Lüge – und doch war sie von anderer Qualität als die Lügen eines Putin oder auch eines Donald Trump. Worin besteht der Unterschied?

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Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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Als Bush und sein Außenminister Colin Powell die Lüge von den Massenvernichtungswaffen auftischten, konnte die Weltöffentlichkeit zu dem Zeitpunkt die Lüge als solche nicht ohne Weiteres erkennen. Insofern machte diese Lüge genau das, was „Alltagslügen“ eigentlich tun. Diese sind nämlich darauf aus, dass der Empfänger einer unwahren Aussage sie für wahr hält oder zumindest für wahr halten kann. Solche Lügen sind quasi „Als-ob-Wahrheiten“ und erkennen damit indirekt den Stellenwert von Wahrheit und die moralische Pflicht, die Wahrheit zu sagen, an. Kommt die Wahrheit schließlich ans Tageslicht, entblößt sich die Lüge als Lüge und muss das Feld räumen. Sie platzt.

Alternative Wahrheiten zerstören die Wahrheits-Norm

Wie ist es aber mit einer Lüge, die so offensichtlich unwahr ist, dass eine unmittelbare Täuschungsabsicht von Anfang an ins Leere laufen muss? Als die Menschen in Rumänien unter dem Ceauşescu-Regime im Winter bitterlich froren und sich die Regierung außer Stande sah, für mehr Brennstoff zu sorgen, fälschte sie einfach den meteorologischen Bericht. Sie verneinte die tiefen Temperaturen und verbreitete schamlos ihre Schönwetter-Version. Es darf bezweifelt werden, dass diese Lüge auch nur ansatzweise eine Chance hatte, nicht als solche wahrgenommen zu werden.

Hier kommt das perfide Konzept der „alternativen Wahrheiten“ ins Spiel. Alternative Wahrheiten lügen nicht nur. Sie verwischen auf Dauer den Unterschied zwischen wahr und falsch; die ethische Norm selbst, nicht lügen zu dürfen und die Wahrheit sagen zu müssen, steht unter Beschuss. Eine solche Lüge lässt sich folglich auch nicht als solche entblößen, da sie diesen Job im Grunde selbst erledigt. Sie bleibt einfach dreist neben der Wahrheit im Raum stehen, zunächst mindestens gleichberechtigt, allerdings in der Absicht, die „wahre Wahrheit“ dauerhaft zu verdrängen. Diese physisch gewaltlose Gewalt kann kaum gewaltsamer sein.

Hohe Nicht-mehr-alle-Tassen-im-Schrank-Inzidenz

Irritierend ist dabei allerdings, dass dies auch in einer Demokratie funktioniert, in der unabhängige journalistische Medien professionell Informationen überprüfen, aufbereiten und verbreiten. Dass die Anhänger Trumps bis zum heutigen Tag trotzdem zu ihm stehen und seinen haltlosen Narrativen folgen, kann nur bedeuten, dass diese Menschen zu einem großen Teil auch belogen werden wollen. Und um es einmal unhöflich zu formulieren: Der anhaltende Erfolg Trumps ist ohne eine überdurchschnittlich hohe Nicht-mehr-alle-Tassen-im-Schrank-Inzidenz in weiten Teilen der US-Gesellschaft kaum zu erklären.

Hat Biden die US-Präsidentschaftswahlen nun gewonnen oder wurden sie seinem Vorgänger Trump nicht doch gestohlen? Ist Putin ein Aggressor oder befreit er nicht doch die Ukrainer von einem Nazi-Regime? Hat Moskau die Millionenstadt Charkiw wirklich gezielt zerbomben lassen – oder sind nur einige wenige Zivilisten „aus Versehen“ getötet worden? Eine 25-Jährige harrt Medienberichten zufolge in der Stadt aus und schildert ihren in Moskau lebenden Eltern von dem Grauen, das sie erlebt. Doch die glauben ihr nicht. Sie sagen, es seien die Ukrainer, die ihr eigenes Volk töteten.

Wenn es den Lügnern erst einmal gelingt, durch penetrante Wiederholung einen Teil des Volkes zumindest zum Zweifeln zu bringen, so dass die Kompassnadeln der Menschen zwischen Wahrheit und Lüge rotieren, zerstört das jede Gewissheit – und in der Folge auch jeden öffentlichen Diskurs. Denn jeder Meinungsstreit bedarf einer gemeinsamen Grundlage verlässlicher Fakten.

Die Lüge zur Herstellung von Loyalität

Schon der römische Bischof und Philosoph Augustinus hatte erkannt, dass die Lüge im Ergebnis jede Form der Kommunikation zerstört. Ohne Vertrauen in die Wahrhaftigkeit menschlicher Mitteilungen ergibt ein Austausch keinen Sinn. Wenn Putin seine „alternativen Wahrheiten“ präsentiert und inszeniert, hat das mit einem Austausch allerdings ohnehin nichts zu tun. Genau das macht den Mann ja so gefährlich. Sein Machtsystem sieht keine Rückkopplung, kein Feedback vor. Da ist offenbar niemand, der ihm sagen könnte: He, Wladi, Du machst da gerade einen Fehler.

Die Lüge erstickt jede Kritik im Keim und dient zur Herstellung und zum Erhalt von Loyalität. Wer beim Lügen mitmacht, ist drin; wer sich verweigert, ist draußen. In Russland von einem „Krieg“ zu sprechen, kann für den Wahrheitsliebenden verdammt teuer werden. Und es gibt noch einen Aspekt bei den sich selbst entlarvenden Lügen: Sie sollen den Empfänger demütigen, ihn verhöhnen. Putin, die beleidigte Leberwurst, will es dem „arroganten Westen“ mal so richtig zeigen. Er hat einem Macron und einem Scholz seine schlimmsten Lügen daher geradezu ins Gesicht gespuckt, über viele Meter hinweg von einem Ende des hässlichsten Tisches der Welt zum anderen. Wie gut, dass beide Staatsmänner, dass alle westlichen Staaten bis heute kühl geblieben sind und kalkuliert zurückgeschlagen haben.

Wie gerne würde ich zum Schluss schreiben: Alles wird gut. Aber das wäre (vielleicht) eine Lüge.

Auf bald.