Essen. Wieder einmal schneidet das Ruhrgebiet in einem Ranking schlecht ab. Perspektivisch aber geht es eher reichen Städten wie München an den Kragen.

Okay, das war ein bisschen Clickbaiting. So nennen wir es, wenn eine Überschrift mehr verspricht, als der dazugehörige Text halten kann – und das soll nicht sein. Also: Ob Gelsenkirchen und Duisburg im Ranking der Regionen und Städte jemals ganz vorne laden werden, weiß niemand. Eines aber zeichnet sich ab, und ich finde, das darf man dann auch herausstellen: Unsere Ruhrgebietsstädte haben eine gute Perspektive, in absehbarer Zeit von den letzten Plätzen wegzukommen. Das sagen die Wirtschaftsforscher. Aber der Reihe nach.

Auf den ersten Blick ist alles wie immer: München liegt im gerade frisch veröffentlichten Regionalranking des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) vorne, die Ruhrgebietsstädte sind abgeschlagen. Auf dem letzten Platz von 400 Plätzen landet, na klar, Gelsenkirchen, auf dem vorletzten Duisburg; unter den schlechtesten Zehn finden wir Herne (396) und Oberhausen (394).

Die ZDF-Doku steckt noch in den Knochen

Uns allen steckt das ja noch in den Knochen. Als das ZDF vor rund vier Jahren in der Dokumentation „Wo lebt es sich am besten?“ ein Ranking veröffentlichte, belegte Gelsenkirchen in der Liste aller 401 Landkreise und kreisfreien Städte den 401. und somit letzten Platz. Am anderen Ende des Rankings thronte München. Ein Aufschrei ging durch den Pott.

Viele Gelsenkirchener, die ihre Heimatstadt mögen, ja lieben, und zwar gerade wegen ihrer Schwächen, brachte das auf die Palme. Hatte das ZDF noch alle Tassen im Schrank?

Zahlreiche Leserinnen und Leser meldeten sich bei uns, bei ihrer Heimatzeitung, und beschwerten sich über das Gelsenkirchen-Bashing im TV. Ein gewisser Marco Buschmann, damals ein wenig bekannter FDP-Bundespolitiker aus Gelsenkirchen, heute Bundesjustizminister in der Ampel-Regierung in Berlin, schlug damals ein Bündnis Lebensqualität und wirtschaftliche Entwicklung für seine Heimatstadt vor. Dieser Schritt sei notwendig, da Gelsenkirchen bereits in einer ähnlichen Studie der Wirtschaftswoche 2016 die niedrigste Punktzahl erzielt habe.

#401GE

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Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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„Etwas“ weniger nüchtern ging es dagegen Olivier Kruschinski an, im Privatleben Familienvater mit Wohnsitz in Ückendorf. Seine Kampagne #401GE schlug ein wie eine gut durchgebratene Stadionwurst im leeren Magen eines hungrigen Schalke-Fans. „Auf Veränderungen zu hoffen, ohne selbst etwas dafür zu tun, ist wie anne Köttelbecke zu stehen und auf die Queen Mary 2 zu warten“, postete er auf Facebook und zeigte Gelsenkirchen, dem ZDF und dem Rest der Republik, wie schön seine Stadt ist – allen Kennziffern zum Trotz. Und jetzt schon wieder: allerletzter Platz.

Doch die Kruschinskis dieser Welt kann man beruhigen. Etwas ist anders. Die IW-Forscher haben nämlich herausgefunden, dass das Ruhrgebiet im „Dynamik-Ranking“ immer besser wird, und dass – umgekehrt – der Wohlstand in den verwöhnten Städten des Südens wie in München langfristig gefährdet ist. Die Schlüsselfrage lautet: Wo finden wir die Industrie heute, und wo finden wir sie morgen?

Thyssenkrupp als Motor grüner Energie

Fest steht schon jetzt: Grüner Strom aus erneuerbaren Energiequellen wird künftig eher im Norden als im Süden der Republik produziert, und die Industrie siedelt sich gerne dort an, wo der Strom ist. Im Hinblick auf das Ruhrgebiet sagen die IW-Experten schon länger voraus, dass grün produzierter Wasserstoff hier die zentrale Technologie werden kann.

Eine besondere Rolle kommt dabei Thyssenkrupp zu. Das Unternehmen will Ende 2024 den ersten Stahl mit Wasserstoff statt mit Kohle produzieren. Zudem soll in Duisburg ein Wasserstoff-Zentrum der Universität entstehen. Wenn alles gelingt, und die Stahlindustrie zeigt sich hier als alles entscheidender Motor, wird das Ruhrgebiet in Sachen Wasserstoff eine europaweite Vorzeigeregion. Der neuen schwarz-grünen Landesregierung, kommt sie denn zustande, wird hier ein maximal zu förderndes Vorzeige-Projekt in die Wiege gelegt. Was für eine Chance auch für die Politik!

Hochschule, Freizeit, Kultur – alles top!

Schon in einer vor mehr als zwei Jahren veröffentlichten Studie nahm das Ruhrgebiet im Vergleich mit den sieben großen Metropolregionen in Deutschland eine Spitzenposition bei den Standortfaktoren Wohnkosten, Hochschuldichte sowie Freizeit- und Kulturangebot ein. „Günstige Wohnkosten, viele junge Menschen, ein großes Freizeit- und Kulturangebot, exzellente Hochschulen – viele Faktoren erinnern an das Berlin der Nuller-Jahre“, betonte Studienautor Hanno Kempermann damals. Dem Ruhrgebiet sei eine ähnliche dynamische Entwicklung zuzutrauen – wenn die richtigen Weichen gestellt würden.

Und auch das haben wir auf der Haben-Seite: Auch bei der sogenannten Work-Life-Green-Balance schneidet das Ruhrgebiet im bundesweiten Vergleich gut ab. Der Weg ins Grüne ist hier besonders kurz, wie eine Studie, ebenfalls vom IW herausgegeben, zeigte. Erneut Kempermann: „Die tatsächliche Erreichbarkeit von Grünflächen ist sehr wichtig für die Lebensqualität in dicht besiedelten Regionen und ein echter Standortfaktor im Wettbewerb um qualifizierte Fachkräfte.“

Licht im Schacht

Was uns jetzt noch gelingen muss, ist, dass wir positiver auf unsere eigene Region blicken, dass wir unsere Stärken herausstellen, statt über unsere Schwächen zu lamentieren. So könnten wir beispielsweise stolz auf unsere Gründerszene blicken! Die Start-ups kommen schließlich nicht zu uns, weil es hier so sch… ist, sondern weil hier gute Ideen auf fruchtbaren Boden fallen, weil Grundstücke relativ erschwinglich sind und weil es sich hier mit viel Kultur und Natur einfach gut leben und arbeiten lässt.

Schicht im Schacht war gestern. Jetzt ist Licht im Schacht.

Auf bald.