Essen. Wir fühlen mit, wir spenden, wir helfen den Ukrainern in Not. Es gibt viele tolle große und kleine Aktionen. Aber reicht das alles wirklich aus?
Zerrissenheit ist wohl das Wort, das meine derzeitige Gefühlslage im Hinblick auf Putins Krieg in der Ukraine am besten beschreibt. Einerseits bin ich stolz. Ich bin stolz darauf, dass und wie wir den Menschen in Not helfen, ganz konkret vor Ort. NRW will zehntausende neue Plätze für Flüchtlinge schaffen. Ich bin stolz darauf, wie entschlossen und geschlossen wir dem Aggressor in Moskau entgegentreten. Deutschland liefert Waffen an die Ukraine – das war bis vor einigen Wochen undenkbar und hätte breiten Widerstand in der deutschen Bevölkerung provoziert. Inzwischen ist eine Mehrheit im Angesicht der schrecklichen Bilder klar dafür. Und ich bin stolz darauf, dass wir bereit sind, auch solche Sanktionen zu beschließen, die uns selbst schaden, bis zu einem gewissen Grad zumindest.
Und genau da beginnen schon die Zweifel. Tun wir wirklich genug? Putins Bomben treffen wehrlose, friedliche Zivilisten. Da er seine Kriegsziele derzeit kaum erreicht, ist eine weitere Eskalation bis hin zum Einsatz von Massenvernichtungsmitteln nicht auszuschließen. Der Mann ist ein Kriegsverbrecher ohne jeden Skrupel. Müssten wir militärisch nicht doch mehr tun? Wäre eine Flugverbotszone über der Ukraine, wie sie die ukrainische Regierung vehement von der Nato fordert, nicht doch notwendig? Spielen wir nicht Putins Spiel, wenn wir ängstlich eine direkte militärische Konfrontation vermeiden wollen, weil wir uns vor einem Dritten Weltkrieg fürchten, womöglich verbunden mit einer umfassenden nuklearen Katastrophe?
Lassen wir die Ukrainer im Stich?
Meine Antwort darauf ist klar: Wir können, wir dürfen das nicht riskieren. Aber, um auch das ganz klar zu sagen: Ich finde die Antwort, so zwingend sie auch sein mag, zugleich beschämend. Es fühlt sich an, als ließen wir die Ukrainer im Stich. Und genau das werfen sie uns ja auch vor, zumindest die offiziellen Vertreter. An vorderster Stelle steht dabei in Deutschland Botschafter Andrij Melnyk. Ich halte das, was er sagt und wie er es sagt, weiterhin für schwer erträglich, und zwar aus zwei Gründen: Er hält uns einen Spiegel vor, deckt so manche deutsche Lebenslüge und Unaufrichtigkeit auf. Das ist per se schwer verdaulich, aber daraus kann man Melnyk keinen Vorwurf machen.
Das ist Klartext
Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.Alle Folgen der Kolumne finden Sie hier.Klartext als Newsletter? Hier anmelden.
Was man aber durchaus kritisieren kann und darf, ist die aggressive, fast schon feindselige Tonlage Melnyks. Wenn er etwa die Weigerung von Bundeskanzler Olaf Scholz, ein totales Öl- und Gasembargo gegen Russland zu verhängen, mit den Worten kommentiert, das sei „ein Messer in den Rücken“ der Ukraine, dann schießt er übers Ziel hinaus. Das ist dann nicht nur undiplomatisch, sondern angesichts der massiven humanitären, finanziellen und inzwischen auch militärtechnischen Unterstützung aus Deutschland unangemessen – so sehr man Verständnis für einen Botschafter haben muss, dessen Land und dessen Volk derart bedroht wird. So sollte man mit Freunden nicht umgehen.
Menschenleben versus Wirtschaft
In der Sache kann man indes weder dem Botschafter, noch dem ähnlich pointiert sprechenden Außenminister und schon gar nicht dem Präsidenten der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj, einen Vorwurf machen. Natürlich müssen wir uns mit der Frage auseinandersetzen, ob wir weiter Gas, Öl und Kohle aus Russland beziehen können und damit direkt oder indirekt Putins Morden finanzieren. Was bedeutet es, wenn die Bundesregierung sagt, es sei nicht möglich, von heute auf morgen den Gashahn zuzudrehen? Auf der einen Seite geht es um Menschenleben, auf der anderen um unsere Wirtschaft. Liegt die Antwort unter moralisch-ethischen Gesichtspunkten nicht auf der Hand?
Mich erinnert die Diskussion an den Höhepunkt der Corona-Krise. Auch damals ging es um die richtige, im Kern zynisch wirkende Balance zwischen der Rettung von Menschenleben durch einen harten Lockdown einerseits und der Schonung unserer wirtschaftlichen Grundlagen auf der anderen Seite. Was wäre gewonnen, wenn wir unserer Industrie von heute auf morgen die Energie entziehen? Würde das Putin stoppen? Deutschland würde wirtschaftlich um Jahre und Jahrzehnte zurückgeworfen; der Staatshaushalt wäre ruiniert. Armut und soziale Unruhen wären die Folge. Deutschland würde als Europas Motor und als Kraft, die eine Ukraine im Wiederaufbau stützt und Russland weiter Paroli bietet, nachhaltig geschwächt.
Ein schlimmer Moment im Bundestag
Einfache Antworten sind Mangelware in dieser Krise, von Ausnahmen abgesehen. Eine solche Ausnahme stellt freilich der Umgang der Bundesregierung mit der Rede Selenskyjs im Bundestag dar. 15 Minuten lang redet der Mann im Krieg, der mutige Hoffnungsträger eines geschundenen Landes am Abgrund, direkt zu den Abgeordneten, und statt einer Antwort durch den Bundeskanzler und/oder einer Debatte im Parlament folgen – Geburtstagsgrüße der Bundestagsvizepräsidentin an einzelne Abgeordnete. Wie würde- und instinktlos! Wie peinlich!
Da fehlten sie reihenweise, die Tassen in den Schränken des Bundeskanzleramtes, des Auswärtigen Amtes und der Regierungsfraktionen. Dafür habe ich mich als Bürger dieses Landes geschämt.
Zum Glück können wir als Bürger dieses Landes aber auch eine Menge selbst tun, um solche (nennen wir es mal) Defizite auszugleichen. Ein Blick in unsere Region, in unsere Städte zeigt, wie engagiert große Teile unserer Gesellschaft sind, um ganz konkret zu helfen. Ein paar Beispiele gefällig?
Wer ein einziges Leben rettet ...
Da ist etwa die sechsköpfige Familie aus Essen-Schuir, die kurzerhand eine vierköpfige Familie aus der Ukraine aufgenommen hat. Nachbarn und Freunde helfen: Sie bringen warme Mahlzeiten, Brennholz, Fahrräder, manch einer auch Geldgeschenke.
Ein Herner Arzt reist nach Polen an die ukrainische Grenze; in einem Supermarkt, der zu einem Auffanglager umfunktioniert wurde, kümmert sich der Mediziner um verletzte ukrainische Kriegsflüchtlinge.
Es wären noch viele Beispiele zu nennen, größere, vordergründig bedeutendere Aktionen. Aber darum geht es nicht. Es geht darum, dass wir mitfühlen, dass wir das tun, was wir tun können. Wer ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt. Wer das tut, der kann stolz auf sich sein.
Auf bald.