Essen. Wenn Worte zu Waffen werden und der Unterschied zwischen Freund und Feind verwischt, wird es kalt in Europa. Danke für nichts, Ihr Trampeltiere!

Wer im Ruhrgebiet zu Hause ist, den stört es in aller Regel nicht allzu sehr, wenn jemand „Scheiße“ sagt. Legendär ist eine Szene in den unvergessenen Duisburg-„Tatorten“ mit Götz George alias Kriminalkommissar Horst Schimanski, in der ihm sein vermeintlich vornehm-pingeliger Kollege Christian Thanner (gespielt von Eberhard Feik) vorrechnet: „Bis jetzt hast du 18 Mal Scheiße gesagt.“ Salonfähig geworden ist das Fäkalwort, das auch mir mal in seltenen Fällen herausrutscht, glücklicherweise dennoch nicht – und in bestimmten Kontexten verbietet es sich geradezu. Zum Beispiel in der Welt der internationalen Diplomatie.

Umso bemerkenswerter ist, wie sich Russlands Botschafter in Schweden, Viktor Tatarinzew, am Wochenende im Hinblick auf die von den westlichen Ländern angedrohten Sanktionen geäußert hat, sollte sein Land in die Ukraine einmarschieren. In einem Interview mit der Zeitung »Aftonbladet« sagte er: „Entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, aber wir scheißen auf ihre ganzen Sanktionen.“ Wie ungehobelt, dachte ich erst, rüpelhaft und unzivilisiert. Da sind wohl alle Dämme gebrochen, die einen Rest Anstand bewahren.

Schon der Aufmarsch ist eine brutale Aggression

Doch dann kam mir ein zweiter Gedanke, der die Empörung dämpfte oder, um es präziser zu formulieren, auf eine andere Ebene beförderte: Die ganze Politik Russlands ist im Kern unanständig und unzivilisiert. Ob der Einmarsch nun erfolgt oder nicht: Allein die De-facto-Drohung mit einem militärischen Überfall, um neo-kolonialistische Ziele zu erreichen, nämlich die Sicherstellung von „Einfluss-Sphären“, die die Souveränität einzelner Staaten ignorieren, ist eine brutale Aggression. Insofern „scheißt“ Russland nicht nur auf etwaige Sanktionen, sondern auf nahezu alle diplomatischen Gepflogenheiten unter halbwegs zivilisierten (!) Nationen, letztlich auf Frieden und Stabilität in Europa. Tatarinzews schimanskihafte Äußerung war also (leider) kein Ausreißer.

Diplomatie – darunter hatte ich bisher verstanden, nach Gemeinsamkeiten zu suchen, Spannungen abzubauen, Vertrauen aufzubauen und zu festigen sowie das Gegenüber nicht zu überfordern oder gar bloßzustellen. Unter diesen Gesichtspunkten ist auch der Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andrij Melnyk, alles andere als ein Vorzeigediplomat. In verschiedensten deutschen Medien warf er der Bundesregierung „Leisetreterei“ gegenüber Russland vor, sogar „Lethargie“. Berlin solle die „russische Brille“ absetzen. Deutschland lasse die Ukraine „im Stich“, weil es sich entschieden habe, keine Waffen zu liefern. Im Vorfeld des Besuches von Bundeskanzler Olaf Scholz in Kiew forderte Melnyk ein weiteres Milliarden-Euro-Hilfspaket von Deutschland. Allerdings wolle die Ukraine mit Scholz auf Augenhöhe sprechen und sei kein Bittsteller.

Ehrlich gesagt, mir blieb kurzzeitig die Spucke weg, als ich das las. Wäre es nicht so undiplomatisch, müsste man fragen, ob der Herr Botschafter eigentlich noch alle Tassen im Schrank hat.

Was spricht für, was gegen Waffenlieferungen?

Aber der Reihe nach. Stichwort: Waffenlieferungen. Ich bin mir weiterhin nicht sicher, ob Deutschland nun zumindest Waffen zur Verteidigung an die Ukraine liefern sollte oder nicht. Der Hinweis auf die dunkle Vergangenheit Deutschlands jedenfalls, die der Grund dafür ist, dass eine gewisse Zurückhaltung in militärischen Fragen seit Jahrzehnten zur deutschen Staatsräson gehört, ist erst einmal nachvollziehbar. Ebenso nachvollziehbar ist die Sorge, dass mehr Waffen im Zweifel zu mehr Toten führen und Abschreckung durch Rüstung auf lange Sicht eine ziemlich gefährliche Strategie darstellt. Dass Deutschland auch in andere Krisengebiete Waffen liefert, ist nach dieser Lesart kein Vorbild, sondern ein Fehler, den die neue Regierung schnell abstellen sollte.

Andererseits verändert ein derart aggressives, feindseliges Russland die Rahmenbedingungen erheblich. Wenn Worte nicht wirken, muss ein souveräner Staat wie die Ukraine in die Lage versetzt werden, sich selbst zu schützen. Deutschland kommt nicht darum herum, sein außen- und sicherheitspolitisches Koordinatensystem komplett zu überdenken. Das Dumme ist nur, dass die Zeit dafür denkbar knapp ist. Spätestens bei seinem Besuch in Moskau wird Scholz erspüren müssen, ob es eine diplomatische Sonderrolle Deutschlands im Sinne eines besonderen Zugangs zum Kreml überhaupt noch gibt und ob die Bundesregierung auf eine solche angebliche Sonderrolle noch Rücksicht nehmen muss, indem sie der Ukraine Waffenlieferungen kategorisch versagt.

Der Botschafter trampelt durch den Porzellanladen

Es geht hier also nicht um „Leisetreterei“ – und um „Lethargie“ schon gar nicht. Deutschland agiert hinter den Kulissen unermüdlich als einer der Hauptakteure zur Entschärfung der Krise. Vielleicht ist das ja der Unterschied zwischen einem ukrainischen Botschafter in Deutschland und den Außenpolitikern in der Bundesregierung. Der eine benimmt sich wie ein Elefant im Porzellanladen und die anderen setzen auf stille Diplomatie, mit der man im Zweifel viel mehr erreicht: weniger Spannungen, mehr Vertrauen, das Ausloten von Lösungen in einer verfahrenen Situation ohne Gesichtsverlust.

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Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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Botschafter Melnyk dagegen poltert sich durch die deutschen Talkshows und erweist seinem Land dadurch einen Bärendienst. Bittstellerei? Nein, darum geht es sicher nicht. Aber etwas Dankbarkeit einem Land und seinen Steuerzahlern gegenüber, die der Ukraine schon seit Jahren wirtschaftlich erheblich unter die Arme greifen, wäre durchaus angebracht und auch angemessen angesichts neuer deftiger finanzieller Forderungen. Deutschland gehört zu den besten Freunden, die die Ukraine überhaupt haben kann; dass sich ihre Repräsentanten uns gegenüber wenig freundschaftlich verhalten und öffentlich die außenpolitische Zuverlässigkeit Deutschlands in Frage stellen, dürfe vor allem einen freuen: Wladimir Putin. Melnyk und Co. spalten, wo Einheit und Zusammenhalt gefordert sind.

Versagt Scholz – oder macht er genau das, was er soll?

Und der Kanzler? Führt nicht? Versagt auf der ganzen Linie? Oder ist einfach nur ganz bei sich: leise, konzentriert, seriös und souverän? Ist er nicht genau deswegen das geworden, was er jetzt ist, weil die Menschen politische Trampeltiere wie Donald Trump oder Boris Johnson nicht mögen, weil sie eine Art männliche Merkel wollten? Die veröffentlichte Meinung schreit nach Waffenlieferungen an die Ukraine. Die stille Mehrheit der Deutschen sieht das ganz anders. Scharfmacher und Schreihälse verhindern Kriege nicht; sie provozieren sie.

Und Nord Stream 2? Natürlich ist das Projekt tot, wenn Russland losschlägt. Dass Scholz das nicht aussprechen mag und damit begründet, sich nicht in die Karten blicken lassen zu wollen, ist, nun ja, merkwürdig. Mindestens ebenso merkwürdig war aber das Verhalten von US-Präsident Joe Biden während des Besuches von Scholz in Washington, für den Fall des Falles wie selbstverständlich ein Ende von Nord Stream 2 zu verkünden. Ob er gar nicht gemerkt hat, dass er in dem Moment wie ein kleiner Putin agierte, der im Zweifel auf die Souveränität von Staaten innerhalb der US-amerikanischen Einfluss-Sphäre pfeift?

Der Frieden in Europa ist in Gefahr

Es sieht alles nicht gut aus gerade. Wenn Worte zu Waffen werden und Diplomaten alles sind, nur nicht diplomatisch, dann ist der Frieden in Europa in akuter Gefahr. Drücken wir uns allen die Daumen, dass diese Woche nicht den Beginn eines fatalen Krieges vor unserer Haustür markiert. Das wäre nun wirklich ausgesprochen sch...

Auf bald.