Essen. Es war ein Fehler, eine Impfpflicht für alle auszuschließen. Auch wenn die Politik jetzt endlich in die Gänge kommt – uns gehen die Optionen aus.

Impfpflicht! Impfpflicht für alle! (Kunstpause.) Hören Sie das auch? Dieses Grummeln, lauter werdende Stimmen, ein Aufschrei hier, ein Aufschrei dort? Dann kommt sie angerollt, die kollektiv-explosive Empörung. Sie entlädt sich in wüsten Beschimpfungen. Am Ende schreien einige sogenannte Querdenker sogar: „Nazi!“ „Mörder!“ Sie ersticken förmlich an ihrer maßlosen Wut.

Impfpflicht für alle? Ich persönlich bin noch nicht so weit, das hier und heute zu fordern. Ich zögere, wohl wissend, dass wir uns Zögerlichkeit wahrlich nicht leisten können in einer Situation, in der die sich abzeichnende medizinische Katastrophe kaum noch zu verhindern ist. Ich zögere nicht, weil ich mich vor den oben beschriebenen Reaktionen fürchte. Die kommen so sicher wie das Amen in der Kirche, da genügt in wenigen Stunden ein Blick in mein E-Mail-Fach. Ich kann, ich muss das aushalten, denn man kann in Deutschland alles, fast alles sagen – nur muss man nicht erwarten, von allen Seiten Beifall zu bekommen.

Eine Impfpflicht ist ein fürchterliches Instrument

Nein, die Zögerlichkeit ist anders begründet. Eine Impfpflicht ist ein furchtbares Instrument. Denn es handelt sich hier um einen Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit. Sollte tatsächlich eine Pflicht eingeführt werden, sich gegen eine Infektion mit dem Coronavirus zu impfen, dann würde es bei verbalem Widerstand nicht bleiben. Gerade die Militanten unter den Querdenkern würden sich und andere radikalisieren und für Unruhen auf unseren Straßen sorgen, die wir so vermutlich noch nie erlebt haben.

Schließlich gibt es noch ein ganz pragmatisches Argument: Eine Impfpflicht für alle würde die vierte Welle vermutlich nicht mehr rechtzeitig stoppen können. Mindestens 15 Millionen Erwachsene haben das Impfangebot bisher ausgeschlagen. Sie alle noch zu impfen, wird nicht innerhalb weniger Wochen gehen, zumal die meisten Impfzentren leichtfertig geschlossen wurden.

Was ist, wenn 3G, 2G und 2G plus nicht mehr reichen?

Und dennoch müssen wir drüber reden: über eine Impflicht für alle als letztes Mittel. Sie von Anfang an kategorisch auszuschließen, sie zu tabuisieren, war ein schlimmer Fehler der Politik, flächendeckend begangen und nun kollektiv verantwortet. In einer pandemischen Notlage, in der – Achtung, Kalauer! – Prognosen nicht nur deshalb so schwer zu treffen sind, weil sie Aussagen über die Zukunft treffen, sollte man sich alle Optionen offenhalten. Denn jetzt passiert, was nicht hätte passieren dürfen: Uns gehen die Optionen aus. Rapide.

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Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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Erst 3G, dann 2G, jetzt vermehrt auch 2G plus. Die Politik bewegt sich, zu langsam zwar, aber immerhin in die richtige Richtung. Sie schränkt die Bewegungs- und Ansteckungsmöglichkeiten vieler Ungeimpfter immer weiter ein. Dass sich NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst nun gegen die FDP durchgesetzt und mit dem liberalen Corona-Kurs seines Vorgängers gebrochen hat, ist sehr zu begrüßen – auch wenn er seinem Anspruch, „vor der Lage zu bleiben“, schon deshalb nicht gerecht werden kann, weil die Landesregierung bislang noch nicht „vor der Lage“ war. Im Gegenteil.

Nun gilt also bald 2G und in einzelnen Bereichen 2G plus. Was aber ist mit den bildungsfernen Schichten, die sich eher in ihrem familiären Umfeld aufhalten und durch keine der G-Regelungen ernsthaft berührt sind? Und was machen wir eigentlich in einem Winter 2022/23, wenn die Impflücke noch immer so groß ist, dass dann die fünfte Welle kommt?

In Spanien wird die Epidemie vorbei sein

Christian Drosten, der Leiter des Instituts für Virologie an der Charité Berlin, sieht mindestens 100.000 weitere Tote auf Deutschland zukommen. Und er sieht nicht, dass wir im Frühjahr kommenden Jahres durch sind mit der Epidemie – anders als eine Gruppe von Ländern in der EU mit hoher Impfquote wie etwa Spanien. Zwar werde sich im Sommer die Lage auch bei uns beruhigen. Aber dann gingen wir mit einer noch immer nicht ausreichend geschützten Bevölkerung in den nächsten Winter. „Dieses Szenario sollte man sich auch in der Wirtschaft durch den Kopf gehen lassen“, warnt Drosten.

Die Wirtschaft – das sind nicht allein die großen Konzerne. Das ist auch der Mittelständler, der Handwerker nebenan, der Apotheker. Da sind eine ganze Menge FDP-Wähler dabei, die sich darüber wundern, dass sich führende Liberale mit ihrem verqueren Freiheitsbegriff auch nach der Bundestagswahl noch bei Impfskeptikern und -gegnern anbiedern und damit neben gesundheitlichen Gefahren auch die von Drosten angesprochenen erheblichen Risiken für die Wirtschaft außer Acht lassen.

Drosten ist für eine Impfpflicht, ohne sie so zu nennen

Drostens Empfehlung: Wir müssen die Impflücke schließen. Womit? Mit Druck. Von einer „Impfpflicht“ oder einem „Impfzwang“ gar spricht er explizit nicht. Er hat eben schon genug von diesen „Nazi!“- und „Mörder!“-E-Mails bekommen und hält sich bewusst mit politischen Aussagen zurück. Aber man versteht sehr gut, was er meint. Neulich habe ich irgendwo gelesen: „Manchmal muss man auch Dinge auf die Gefahr hin sagen, dass sie so verstanden werden, wie sie gemeint sind.“ Ein guter Satz.

Was also spricht für die Ultima Ratio, was spricht für eine Impfpflicht für alle? Das wichtigste Argument ist: Es ist keine private Entscheidung, sich impfen zu lassen oder nicht. Wer sehenden Auges das Risiko eingeht, sich mit dem Coronavirus zu infizieren und daran schwer zu erkranken, der belastet in der Masse unser Gesundheitssystem so sehr, dass die Gesundheitsversorgung für die gesamte Bevölkerung zusammenbrechen kann und wird. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit steht allen zu, nicht nur den Impfunwilligen.

Sie finden, ich hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank? Das erlaube das Grundgesetz nicht?

Eine einfache Rechtsverordnung würde genügen

Verfassungsrechtlich ist zumindest offen, ob eine Impfpflicht für alle Bestand hätte oder nicht. Nach geltender Rechtslage genügt eine einfache Rechtsverordnung, um eine Impfpflicht einzuführen. Manche Verfassungsrechtler wie Christian Pestalozza halten die Einführung einer Impfpflicht unter bestimmten Voraussetzungen sogar für unausweichlich, geradezu für eine Pflicht des Staates. Und um der Sache etwas von ihrer Ungeheuerlichkeit zu nehmen: Wir haben bereits eine De-facto-Impfpflicht durch das Masernschutzgesetz. Kinder müssen beim Eintritt in die Schule oder in den Kindergarten eine Masern-Impfung vorweisen. Es drohen sonst Geldbußen von bis zu 2500 Euro.

Was tun? Was tun, wenn ein großer Teil der Ungeimpften stur bleibt? Natürlich müssen wir uns weiter um die Ängstlichen bemühen, die nicht genug Informationen haben und/oder Fehlinformationen aufgesessen sind, die man an jeder virtuellen Straßenecke im WWW bekommen kann. Diejenigen, die ansprechbar sind, müssen nun auf allen Kanälen angesprochen werden. Das ist nicht nur eine Aufgabe für Politiker. Da kommt es auch auf Sie, auf Dich und auf mich an.

Auf bald.