Essen. Dass die Impfpraxen nach dem Facebook-Ausfall einen Ansturm erlebten, war nur ein Witz. Weniger lustig sind dagegen die Abgründe in dem Netzwerk.

Es gibt zwei Dinge, die nach dem frühmorgendlichen Weckerklingeln meine müdigkeitsbedingt ohnehin schon angeschlagene Laune für den Rest des Tages in den Keller befördern können: ein akuter Mangel an Kaffeebohnen im Küchenregal und ein Mangel an Intelligenz und/oder Anstand unter dem einen oder anderen Facebook-Post. Denn, ich gebe es zu, diese zwei Dinge mache ich meist innerhalb der ersten fünf (meine Frau würde sagen: zwei) Minuten nach dem Aufstehen: Ich trinke Kaffee und schnappe mir mein Smartphone, um auf die blaue Kachel mit dem kleinen weißen „f“ zu drücken. Es ist lupenreines Suchtverhalten. Und oft tut es mir nicht gut.

Das infantilste und infamste Symbol auf Facebook

20 Duisburger sind im September im Zusammenhang mit einer Covid-19-Infektion gestorben“, berichtet unsere Duisburger WAZ-Lokalredaktion via Facebook und fügt hinzu: „Ein großer Teil von ihnen war nicht geimpft.“ Es ist, darauf sollte man sich unter normalen Menschen schnell verständigen können, eine schlechte Nachricht. Sie wird von den Kolleginnen und Kollegen in Duisburg nicht weiter kommentiert oder sonst wie eingeordnet; die Fakten sprechen für sich. Doch irgendwelche, ich finde keinen besseren Ausdruck, Voll-Honks „liken“ den Post mit dem infantilsten und im Zusammenhang mit einer Todesmeldung wohl auch infamsten Symbol, das Facebook vorhält: dem Lach-Smiley.

Haben die noch einen Schrank für all ihre Tassen?

Es kommt noch toller. Erika D. fragt in einem Kommentar unter demselben Post: „Warum wird wohl so ein Mist geschrieben?“ Die Antwort liefert sie gleich mit: „Weil sie es vorgesetzt bekommen.“ Mit „sie“ sind wir gemeint, wir Redakteure. Da habe ich den Kaffee schon auf, bevor ich auch nur daran genippt habe. Aber Erika D. ist noch steigerungsfähig. Weiter unten behauptet sie wortwörtlich: „Ich persönlich kenne mehr, die an der Impfung verstorben sind oder Schlaganfälle bekamen wie Coronatote.“ Eine Quelle hat sie selbstverständlich so wenig anzubieten wie ausreichende Grammatik-Kenntnisse.

Ich bestimme, welche Facebook-Freunde ich in mein Wohnzimmer lasse

Ja, man kann das ignorieren und sich auf seine eigene Filterblase im Netz konzentrieren – auf diejenigen nämlich, die man sich als Facebook-Freunde ausgesucht hat, und ich muss sagen, dass ich da wählerisch bin. Wer sich daneben benimmt und mir dumm kommt, fliegt raus, wird „entfreundet“ oder sogar blockiert. Das geht technisch recht einfach und ist auch völlig legitim. Ich bestimme ja auch, wer sich mit mir in meinem Wohnzimmer unterhält und wer nicht. Doch leider muss man ab und an seine Wohnung verlassen. Wer dann auf die Straße geht, der trifft auch auf Leute, auf deren Gesellschaft er gut verzichten kann. Und auf viele Kommentatoren unter den von mir abonnierten Facebook-Seiten könnte ich auch sehr gut verzichten.

Etwa auf Jenna S. Unter einem Post zur Frage, ob die Maskenpflicht in den Schulen enden sollte, gibt sie zu Protokoll, und ich zitiere wieder wortlautgetreu: „Wird auch Zeit! Hätte von Anfang an eh niemand gebraucht. Im Gegenteil mehr Kinder wurden durch die Dinger krank! Und jetzt los shitstorm.“ Einen „Shitstorm“ entfesselt sie nicht. Im Gegenteil: Sie erntet Zustimmung. Ich überlege kurz, ob ich einen Ein-Mann-Shitstorm starten oder wenigstens auf den infantilen Lach-Smiley drücken soll (was ein wenig unter meinem Niveau wäre, aber vermutlich gut täte), doch meine Finger schieben wie in Trance den nächsten Post auf den Bildschirm meines Smartphones.

Corona-Impfstoff für Kinder: „Die sind GEISTESKRANK !!!“

Diesmal geht es um einen Artikel, der sich mit der möglichen Zulassung des Biontech-Impfstoffs für unter Zwölfjährige beschäftigt und den entsprechenden Zulassungs-Studien dazu. Ich ahne Schlimmes. Es folgt nun – Wort für Wort, Rechtschreibfehler für Rechtschreibfehler – die Wiedergabe folgender „Debatte“ unter dem Post (ich habe nur die Namen gekürzt):

Jennifer C.: Ich Frage mich immer, wer seine Kinder für sowas her gibt.

Boese S. an Jennifer C.: die sind auf jeden Fall „ GEISTESKRANK “ !!!!

Jasmina L. S. an Jennifer C.: wahrscheinlich keine Kinder aus Europa... sondern aus sehr armen Ländern, die Eltern dort werden weder über Risiken aufgeklärt noch sonst was. Die meisten bekomme. Eine Mahlzeit und das wars... damit die „reichen“ Länder ihre Versuchskaninchen haben. Traurig und kaputt ist diese Welt

Tkefrep E. an Jennifer C.: Ja vermute mal das Kinder mit staatlichen Vormund für sowas missbraucht werden.

Sandra B. an Jennifer C.: Die gleichen Menschen die ihre Kinder hergeben (müssen) um in giftigen Minen Rohstoffe ab zu bauen damit wir in Deutschland uns vom gemütlichen Sofa auf unserem Handy darüber beschweren können, wie Geisteskrank das doch alles ist...

Gaby B. an Sandra B.: genau so ist es..

Jacqueline H. an Jennifer C.: schrecklich (Wein-Smiley)

Wer gegen Fakenews vorgeht, wird beschimpft und sogar bedroht

Ich zwinge mich, obwohl es mir in den Fingern juckt, nun nicht in diesen Dialog einzugreifen und Jennifer C., Boese S., Jasmina L., Tkefrep E., Gaby B. und Jacqueline H. über das von ihnen gezündete Fakenews-Feuerwerk aufzuklären. Ich weiß nämlich aus Erfahrung, dass das überhaupt nichts bringt (Wein-Smiley!). Keiner sagt anschließend: Oh, danke, das habe ich gar nicht gewusst. Oder: Ach ja, da denke ich mal drüber nach. Spott und Beschimpfungen sind die Folge und, auch das ist mir schon passiert, handfeste Drohungen. „In Guantanamo haben wir noch einen Platz für Dich“, schrieb mir ein besonders netter Zeitgenosse mal zurück und raunte mir als Sprachnachricht auf dem Messenger zu: „Ich weiß, wo Du wohnst.“ Meine anschließende Strafanzeige endete im Nichts.

Das ist Klartext

Klare Kante, klare Meinung – das ist Klartext, die kommentierende Kolumne von Alexander Marinos, stellvertretender Chefredakteur der WAZ. Hier werden aktuelle politische Themen aufgegriffen und subjektiv-zugespitzt eingeordnet. Dabei handelt es sich um ein Meinungsangebot zum An- oder Ablehnen, An- oder Aufregen.

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In seinem Essay „The Triumph of Stupidity“ brachte Bertrand Russell 1933 sinngemäß auf den Punkt, warum die Dummen den Schlauen in gewisser Weise überlegen sind. Erstere seien sich ihrer Sache meist sehr sicher, letztere dagegen meist voller Zweifel, so Russell. Könnte es nicht doch sein, dass es bei den Impfstoff-Studien an Kindern zumindest in Einzelfällen nicht mit rechten Dingen zugeht? Intelligente Menschen stellen sich diese Frage, ohne gleich in Verschwörungstheorien abzudriften. Weniger intelligente Menschen meinen, alles schon zu wissen, und beglücken mit ihrem Nicht-Wissen die Welt. Denn jeder und jede hat dank der (a)sozialen Netzwerke per Knopfdruck Zutritt zu einem potenziellen Massenpublikum. Man kann das für Demokratie halten. Oder für Anarchie.

Blödheit erkennt sich selbst nur schlecht

„Wenn man inkompetent ist, kann man nicht wissen, dass man inkompetent ist“, fasst David Dunning den 1999 beschriebenen „Dunning-Kruger-Effekt“ zusammen. Denn die Fähigkeiten, die Inkompetente benötigen würden, um eine richtige Antwort zu geben, seien genau die Fähigkeiten, die sie benötigen würden, um zu erkennen, was eine richtige Antwort sei, so Dunning. Facebook und Co. sind Dunning-Kruger-Effektverstärker. In Kombination mit mangelhafter Mediennutzungskompetenz vieler User verwischen die Grenzen zwischen „wahr“ und „falsch“, Tatsachen und Meinungen. Das gefährdet unser gesellschaftliches Miteinander und sorgt für tiefe Gräben in Krisensituationen, wo gesamtgesellschaftliche Solidarität bitter nötig wäre.

Dass Facebook Hass und Lügen wuchern lässt und dass dies zum Geschäftsmodell des Mega-Konzerns gehört, hat dieser Tage Whistleblowerin Frances Haugen in eindrucksvoller Weise aufgedeckt. Dass ausgerechnet in diesem zeitlichen Zusammenhang WhatsApp, Facebook und Instagram stundenlang technisch tot waren, entbehrt nicht einer gewissen Komik. In Deutschland nutzen 71 Prozent der Erwachsenen, die sich im Internet tummeln, WhatsApp; 44 Prozent sind auf Facebook unterwegs.

Facebook-Blackout: War da etwas?

Die meisten Facebook-Hardcore-Fans bemühten sich nach dem Blackout um demonstrative Coolness. Einen klasse Abend habe man erlebt, schrieb einer meiner Facebook-Freunde, und erklärte recht ausführlich auf Facebook, warum er eben dieses Facebook für sein Leben nicht brauche. Das muss wohl eine besondere Form von Dialektik sein – oder Teil eines klassischen Suchtverhaltens, zudem es ja nicht selten gehört, die eigene Sucht zu bestreiten.

Mike N. versuchte es auf dem WAZ-Account derweil mit Humor: „Ich konnte mich in der Zeit der Störung mit meiner Frau unterhalten – scheint echt eine sehr nette Person zu sein.“ Das Satire-Magazin „Der Postillon“ postete eine Spaß-Schlagzeile, bei der mir das Lachen im Halse stecken blieb: „Nach Facebook- und WhatsApp-Ausfall: Impfpraxen melden plötzlichen Ansturm.“

Das Beste zum Schluss

Lassen wir zum Schluss dieser Klartext-Kolumne noch Jacky L., David G. und Brit B. zu Wort kommen, unkommentiert und unverfälscht. Es geht um die Nachricht, dass sich Schüler für 3G-Veranstaltungen in den Herbstferien testen lassen müssen, da an den Schulen keine Tests stattfinden:

Jacky L.: Hauptsache Kohle machen mehr interessiert die da oben nicht mehr, die Kinder mussten schon genug einstecken irgendwann reicht es doch mal (Fass-sich-mit-der-Hand-an-die-Stirn-Smiley)

David G.: Das ist doch total krotesk

Jacky J.: Und lasst mich raten für Kinder muss man test bestimmt bezahlen (Kochen-vor-Wut-Smiley)

Brit B.: Jeden Tag was anderes. Wird Zeit das diese Verbrecher bald ihre gerechten strafen bekommen

Auf bald.