Der Sicherheitsgurt und die Impfpflicht sind das Pfefferspray jeder Diskussion – dabei gab es damals Gründe gegen den Gurt zu sein.

Österreichs Bundeskanzler Alexander Schallenberg hat die Einhaltung der Corona-Regeln und vor allem die persönliche Pflicht, sich impfen zu lassen, mit der Gurtpflicht im Auto verglichen – und einen Shitstorm geerntet. Die Journalistin Mai Thi Nguyen-Kim hat in ihrem Video-Blog erklärt, warum der Vergleich hinkt, und ist in den Sozialen Medien ebenfalls ziemlich unter die Räder gekommen. Denn die Debatte hat es in sich.

Der Impfpflicht-Gurtpflicht-Vergleich ist auf eine Art so simpel und einleuchtend, dass man sich fragen muss, warum man selbst nicht früher darauf gekommen ist, und auf der anderen Seite so ungerechtfertigt, dass Impfgegner wie Impfbefürworter so richtig in Rage geraten.

Impfpflicht gleich Gurtpflicht? Mit dem Vergleich crashen Sie jede Party

Der Anschnallgurt-Vergleich ist das Pfefferspray jeder Corona-Impfpflicht-Diskussion. Bringt man ihn auf einer Party, kann man sich sicher sein, dass die Unterhaltung laut wird. Ein Vorschlag für den Einstieg: „Es ist ja auch erwiesen, dass der Sicherheitsgurt Leben rettet, genauso ist es mit der Corona-Impfung.“ Oder: „In den 70er-Jahren hat sich auch erst eine große Mehrheit gegen das Anschnallen im Auto gewehrt, das war genauso irrational, wisst ihr noch?“

Sofort wird die Gegenrede erfolgen: „Der Gurt wird ja nur außen angelegt, der wird einem nicht gespritzt wie die Corona-Impfung.“ Oder zustimmend, aber völlig verdreht: „Völlig richtig! Auch der Sicherheitsgurt hat Nebenwirkungen: Was ist, wenn man bei einem Unfall im Auto festgeklemmt ist, weil der Gurt sich nicht löst? Stell dir vor, du stürzt in einen Fluss mit dem Auto! Was dann?“

Als es ums Anschnallen ging, musste ich an meine Mutter denken

Der absolut seltene und doch recht unwahrscheinliche Absturz in den Fluss jedenfalls, steht für die möglichen Corona-Nebenwirkungen. Es wird munter weitergehen: „Aber sollten wir wegen dieser eher seltenen Fälle nun alle unangeschnallt fahren und ein viel größeres tägliches Risiko eingehen?“

Tatsächlich stand ich letztens dabei, als der Sicherheitsgurt-Vergleich aufkam. Und ich musste an meine Mutter denken. Sie hat sich nie angeschnallt. Sie hat den Anschnallgurt wie so viele zu der Zeit als Freiheitsberaubung empfunden. Ihre Entscheidung, fand sie. Mein Körper, meine Sicherheit. Doch ab 1976 wurde der Gurt im Auto Gesetz. Auch danach hat sie sich noch widersetzt. Als 1984 ein Bußgeld von 40 D-Mark fällig wurden, begann meine Mutter zu tricksen.

Die Tricks meiner Mutter um bloß nicht den Gurt umlegen zu müssen

Ich kann mich noch erinnern, dass zu dieser Zeit viel auf den Straßen der niedersächsischen Provinz kontrolliert wurde. Zahlreiche Male winkte uns die Polizei auf den Standstreifen. Wenn der Polizist (an weibliche Beamtinnen kann ich mich nicht erinnern) dann ans Fahrerfenster herantrat, mit dem hellgrünen Kurzarmhemd und dem 80er-Schnauzer im Gesicht, griff meine Mutter mit der rechten Hand an den Gurt, zog und zupfte schnell ein bisschen daran und tat so, als ob sie sich gerade abschnallen würde. Erst dann kurbelte sie ein wenig schüchtern lächelnd das Fenster hinunter. Tatsächlich funktionierte das.

Fragte doch mal einer: „Waren Sie während der Fahrt angeschnallt?“, log sie einfach. „Ja, natürlich!“, sagte sie weiterlächelnd. Zweifelte der noch immer an ihrer Version, fing sie an, mit dem Beamten zu flirten und wenn das nicht half, auf die Tränendrüse zu drücken. Sie sei alleinerziehend und habe gar nicht so viel Geld dabei.

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Sie können sich vorstellen, wie peinlich ich das fand. 8, 9 Jahre alt auf dem Rücksitz, natürlich auch nicht angeschnallt. Tatsächlich konnte meine Mutter den ein oder anderen Beamten sogar runterhandeln. Gab ihm 10 oder 20 D-Mark („das ist gerade alles, was ich habe“), Geld, das er nirgendwo außer in seiner Kaffeekasse verbuchen konnte – und sie fuhr weiter. Alle Morgenland-Kolumnen lesen Sie hier.

Heute legen rund 99 Prozent der Erwachsenen im Auto den Gurt an, das hat eine Erhebung der Bundesanstalt für Straßenwesen ergeben. Trotzdem sterben Menschen bei Autounfällen – angeschnallt. Meine Mutter liebte das Autofahren und ihre Freiheit. Hätte sie sich heute wohl impfen lassen? Sicherlich.