Witten. Nach Urteil gegen eine Ex-„Bauer sucht Frau“-Teilnehmerin aus Witten: Wie merken Betroffene und ihr Umfeld, ob sie in eine kritische Phase rutschen?

Menschen, die mit einer bipolaren Störung leben, schwanken zwischen emotionalen Extremen. Schlimmstenfalls können sie zur Gefahr für sich selbst und andere werden. Eine ehemalige Teilnehmerin des TV-Formats „Bauer sucht Frau“ aus Witten ist nach mehreren Gewaltausbrüchen zu einem unbegrenzten Aufenthalt in einer psychiatrischen Einrichtung verurteilt worden. Nach dem Scheitern ihrer Selbstständigkeit rutschte die 50-Jährige in Alkohol- und Drogenexzesse, rastete immer wieder aus. Wie hätte man das verhindern können? Prof. Dr. med. Marcel G. Sieberer, der Leiter des Lehrstuhls für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten-Herdecke erklärt, welche Warnzeichen bei Betroffenen häufig auftreten, wenn sie in eine Abwärtsspirale geraten und was sie und ihr Umfeld tun sollten, um gefährliches Verhalten zu verhindern.

Herr Prof. Sieberer, was sind Warnzeichen dafür, dass jemand mit einer bipolaren Störung in eine gefährliche Phase rutscht?

Prof. Dr. Sieberer: Eine kritische Phase einer bipolaren Störung kann sich durch starke Stimmungsschwankungen ankündigen. Zum Beispiel kann eine übertrieben euphorische oder gereizte Stimmung (als manische Phase) oder andererseits eine tiefe Verzweiflung und Traurigkeit mit mangelndem Antrieb (als depressive Phase) auffallen. Weitere Anzeichen können impulsives Verhalten, Schlaflosigkeit, übermäßige Risikobereitschaft oder auch plötzliches Rückzugsverhalten sein. Wichtig ist, auf Veränderungen im Verhalten und der Selbstwahrnehmung zu achten, vor allem wenn bei den Betroffenen schon eine bipolare Störung bekannt sein sollte.

Wie können Alkohol- und Drogenmissbrauch bei Menschen mit psychischen Erkrankungen wie einer bipolaren Störung das Verhalten beeinflussen?

Sieberer: Alkohol und Drogen können die Symptome einer bipolaren Störung verschärfen. Sie verstärken manische oder depressive Phasen, können zu unkontrollierbarem Verhalten führen und die Wirkung von Medikamenten beeinträchtigen. Alkohol und einige Drogen werden häufig ja gerade mit dem Ziel konsumiert, in der Regel angenehme Emotionen zu verstärken. Gleichzeitig können sie aber die Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und Entscheidungsfindung erheblich verringern, was das Risiko für gefährliche Verhaltensweisen erhöht. Häufig ist eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit auch eine zusätzliche psychische Erkrankung neben der bipolaren Störung, was den Verlauf der Erkrankungen schwieriger machen kann.

Alkohol- und Drogenmissbrauch können das Risiko für gefährliches Verhalten bei psychisch erkrankten Menschen erhöhen. (Symbolbild)
Alkohol- und Drogenmissbrauch können das Risiko für gefährliches Verhalten bei psychisch erkrankten Menschen erhöhen. (Symbolbild) © dpa | Alexander Heinl

Wie sieht ein wirksames Behandlungsprogramm für Personen aus, die wegen „Gefährdung der Allgemeinheit“ in psychiatrischer Unterbringung sind?

Sieberer: Da geht es im ersten Schritt natürlich darum, akute Gefahren einzudämmen und schlimmeren Schaden abzuwenden. Die Behandlung unter diesen Bedingungen ist sehr anspruchsvoll und umfasst eine Kombination aus medizinischen Maßnahmen, wie eine gezielte Behandlung mit Medikamenten, mit Psychotherapie, aber auch Kreativ- und Bewegungstherapie sowie sozialer Unterstützung. Ziel ist es dabei immer, die Symptome soweit zu stabilisieren, dass die betroffene Person möglichst bald wieder in ihre gewohnte Umgebung zurückkehren und dort eventuell weiter betreut werden kann. 

Wie kann man den Unterschied zwischen kriminellem Verhalten und Handlungen, die durch eine psychische Erkrankung bedingt sind, verstehen und bewerten?

Sieberer: Kriminelles Verhalten ist in der Regel mehr oder weniger absichtlich und häufig ohne Rücksicht auf Gesetze oder andere Menschen. Handlungen, die durch psychische Erkrankungen bedingt sind, können das Ergebnis einer verzerrten Wahrnehmung oder eines Kontrollverlusts sein. Bei psychischen Erkrankungen wie der bipolaren Störung kann es beispielsweise zu impulsiven Handlungen oder Fehlwahrnehmungen kommen, die nicht aus böswilliger Absicht, sondern aus der Krankheit heraus geschehen. In manchen Fällen ist dann davon auszugehen, dass die Person, die die Straftat begangen hat, dafür nicht verurteilt werden kann, weil sie nicht schuldfähig gehandelt hat. Aber das ist im Einzelfall immer eine Entscheidung des Gerichts.

Die bipolare Störung ist auch unter dem Namen „manisch-depressive-Störung“ bekannt.
Die bipolare Störung ist auch unter dem Namen „manisch-depressive-Störung“ bekannt. © dpa | Emmi Korhonen

Wie kann man Menschen vor ähnlichen Abwärtsspiralen schützen, vor allem wenn diese öffentlich bekannt sind?

Sieberer: Aufklärung über psychische Erkrankungen, frühzeitige Diagnosen und regelmäßige Behandlung sind entscheidend. Auch der Aufbau eines stabilen sozialen Netzwerks, das Unterstützung bietet, kann helfen. In Fällen, in denen eine Person öffentlich bekannt ist, sollten Privatsphäre und angemessene Hilfe im Fokus stehen, um zu verhindern, dass sie in einer öffentlichen Krise weiter abrutscht. Die Arbeit der Selbsthilfe, das Engagement von Angehörigen, aber auch ganz allgemein das Interesse der Gesellschaft an einer wirkungsvollen Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen spielen ebenfalls eine zentrale Rolle.

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