Witten/Bonn. Eine Wittenerin hat eine gehörlose Tochter. Sie musste lange um Hilfe für die elfjährige Annabell kämpfen: Sie ging sogar vor Gericht.
- Ann Cathrin Wehmeies Tochter Annabell ist gehörlos. Die Aufklärung habe aber nur einseitig stattgefunden.
- In all den Jahren kämpfte die Familie um die Finanzierung eines Haus-Gebärdenkurses, sogar vor Gericht. Der Weg dahin war steinig.
- Zwei Jahre lang hätten die Anträge bei den Ämtern gelegen. Hilfe und Austausch fand die Familie beim Bundeselternverband gehörloser Kinder.
Ein Hörtest gehört bei Neugeborenen seit 2009 zur Regelversorgung. Aber bei etlichen Kindern wird eine Hörschädigung erst später diagnostiziert. Für die Familien beginnt oft ein langer Weg auf der Suche nach Unterstützung - wie das Beispiel einer Wittenerin beweist.
Als Ann-Cathrin Wehmeiers Tochter vor elf Jahren zur Welt kam, war das Neugeborenen-Hörscreening zwar auffällig. Die Ärzte schoben das aber auf Fruchtwasser im Gehörgang. Erst als der Verdacht auf eine seltene Erkrankung fiel, das sogenannte Charge-Syndrom, seien weitere Tests gemacht worden, sagt die 39-Jährige aus Witten. Denn eine Hörbehinderung ist bei dem Syndrom häufig. Eine Untersuchung brachte Gewissheit: Ihre Tochter Annabell ist gehörlos.
Wittenerin beklagt einseitige Aufklärung
„Eine Aufklärung fand nur einseitig statt. Dabei wurde ein Cochlea-Implantat als einzige Lösung vorgeschlagen“, erinnert sich Wehmeier an die Zeit danach. Das Implantat ersetzt die Funktion des Innenohrs, indem es elektrische Impulse an den Hörnerv weiterleitet. Das Gehirn muss lernen, die Impulse als bestimmte Geräusche und schließlich als Sprache wahrzunehmen. Fünf Jahre lang trug Annabell das Implantat - ein Hörerfolg blieb aus. Eine MRT-Untersuchung ergab schließlich, dass das Kind keine Hörnerven besitzt. Das Implantat war nutzlos.
Anträge auf Finanzierung eines Gebärdenkurses lag zwei Jahre lang bei Ämtern
In all den Jahren kämpfte die Familie parallel um die Finanzierung eines Haus-Gebärdenkurses, sogar vor Gericht. „Der Weg dahin war schrecklich“, sagt Wehmeier. Zwei Jahre lang hätten die Anträge bei den Ämtern gelegen. Hilfe und Austausch fand die Familie beim Bundeselternverband gehörloser Kinder.
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Ein Gebärdenkurs steht den Betroffenen eigentlich zu. Doch die Bearbeitung dauere nicht selten mehrere Jahre, sagt Romy Ballhausen vom Vorstand des Verbandes. „Wie oft hören wir: Den Antrag haben wir hier das erste Mal“, sagt sie. Kostbare Zeit, die den Familien in der gemeinsamen Kommunikation fehlt. So wie der Familie von Ann-Cathrin Wehmeier. Vor Gericht erwirkte sie schließlich einen Haus-Gebärdensprachkurs für zwei, später viereinhalb Stunden pro Woche.
Diese Zahlen hat das Bundesgesundheitsministerium
Nach Schätzungen des Bundesgesundheitsministeriums verfügen in Deutschland rund 80.000 Kinder über ein stark eingeschränktes Hörvermögen. Ein zentrales Register gibt es nicht. Unter 1000 Neugeborenen liegt bei rund ein bis drei Kindern eine Hörschädigung vor. Ziel der Screening-Untersuchungen seit 2009 ist es, Probleme möglichst früh zu erkennen.
„Bei einer Form des Neugeborenen-Hörscreening wird der Reaktionsschall des Hörvorganges aus dem Innenohr (Innenohrecho) gemessen. So kann beispielsweise festgestellt werden, ob die Hörschnecke funktioniert“, erklärt Thomas Deitmer, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie. Das sogenannte BERA-Hörscreening messe zusätzlich die Aktivität des Hörnervs.
Bei 0,1 bis 0,3 Prozent der Kinder entwickelt sich die Hörstörung im Laufe des Lebens, zum Beispiel durch eine Viruserkrankung oder bakterielle Infektion. Bei einigen Kindern fällt erst in der Kita oder Schule auf, dass sie nicht richtig hören können.
Kinder mit eingeschränkter Hörfähigkeit sind oft frustriert, ja wütend
Wenn der Frust über das eingeschränkte Hören zunimmt, reagieren manche Kinder verhaltensauffällig, unruhig oder aggressiv und werden oft als „schwer erziehbar“ abgestempelt. Das erlebt Thekla Werk bei ihrer Arbeit als Gebärdensprachdozentin in Familienkursen.
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In ihren Kursen gehe es oft um mehr als um die Kommunikation, erklärt sie. „Einmal war ich in einer Familie, in der das gehörlose Kind am Tisch immer unruhig war. Ich bemerkte, dass es mit dem Rücken zur Tür saß und sich immer umdrehte, um mitzubekommen, wer rein- und rausging. Als wir es umsetzten, wurde es ruhiger“, so die 40-Jährige. Solche Situationen zeigten, dass hörende Eltern oft noch lernen müssten, wie ihr Kind die Welt wahrnehme. So war es auch in der Familie von Annabel aus Witten.
„Wir kommunizieren ausschließlich über Gebärdensprache. Auch ihre Geschwister haben die Sprache gelernt“, erzählt Ann-Cathrin Wehmeier. Die 39-Jährige engagiert sich inzwischen selbst im Elternverband gehörloser Kinder. Eine frühe Diagnose sei wichtig. Allein in Technik und medizinischen Lösungen sieht sie aber nicht das Allheilmittel für eine gelungene Integration schwerhöriger und gehörloser Kinder. Ihr Wunsch: eine größere Akzeptanz und Verbreitung der Deutschen Gebärdensprache.
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