Witten. Die Inflation mag insgesamt gesunken sein. Wer aber in Witten Lebensmittel kauft, macht ganz andere Erfahrungen. Warum sind sie so teuer?

Mag die Inflation aufs Ganze gesehen sinken – die Lebensmittelpreise steigen. Kaffee wird teurer, Pommes und Chips auch. Warum ist das so? Eine Spurensuche in Witten.

Sogar Hotel-Chef Ajit Grewal spürt’s. „Mein Kaffee-Vertreter sagte mir: Zum ersten Mal seit 20 Berufsjahren sehe ich, dass innerhalb eines Jahres die zweite Preiserhöhung kommt. Die kommt zum 1. Juli“, sagt Ajit Grewal. Der Hotelier kann die Preisexplosion für Lebensmittel verkraften. Bezieher kleiner Einkommen indes trifft sie hart.

Tolle Knolle ist rare Ware: Biobauer Dirk Liedmann (li.) betreibt gemeinsam mit Stefan Pawliczek den Hof Kornkammer Haus Holte in Witten. Er erklärt, warum die Kartoffelpreise so ins Kraut schießen.
Tolle Knolle ist rare Ware: Biobauer Dirk Liedmann (li.) betreibt gemeinsam mit Stefan Pawliczek den Hof Kornkammer Haus Holte in Witten. Er erklärt, warum die Kartoffelpreise so ins Kraut schießen. © WAZ | jürgen overkott

Erdbeeren doppelt so teuer wie im Vorjahr

Szenenwechsel. Wochenmarkt in Witten. Obwohl das Wetter lau und trocken ist, hat sich der Rathausplatz gegen 13.45 Uhr schon fast komplett geleert. Die letzte Kundin ist eine alte Dame. Sie verlässt den Markt, lediglich eine kleine Plastiktüte hat sie dabei. Kein Wunder: Die Preise für Obst und Gemüse sind ins Kraut geschossen. Markthändler Andreas Kaczinski vom Hof Sanders in Henrichenburg weiß das: „Paprika, Tomaten, Erdbeeren und auch Kartoffeln. Kartoffeln sind doppelt so teuer wie letztes Jahr. Die Leute kaufen ganz wenig.“

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Biobauer Dirk Liedmann öffnet den Hofladen der Kornkammer Haus Holte in Witten immer freitags. Mehl gibt‘s dort, Haferflocken und Öle. Eigene Kartoffeln sind allerdings - wetterbedingt - vorerst nicht zu haben.
Biobauer Dirk Liedmann öffnet den Hofladen der Kornkammer Haus Holte in Witten immer freitags. Mehl gibt‘s dort, Haferflocken und Öle. Eigene Kartoffeln sind allerdings - wetterbedingt - vorerst nicht zu haben. © WAZ | jürgen overkott

In Haus Holte in Gedern sitzt der Bioland-Betrieb Kornkammer Haus Holte. Dirk Liedmann betreibt ihn gemeinsam mit Stefan Pawliczek. Bei der Suche nach einer Erklärung für die hohen Lebensmittelpreise, gerade für Erzeugnisse aus Deutschland, hält es Biobauer Liedmann mit dem Apostel Thomas aus der Bibel: Sehen heißt Glauben. Er zeigt auf eine kleine braune Fläche auf dem zur Ruhr abfallenden Hang. Dort wuchsen bis vor kurzem Kartoffeln. Inzwischen sind alle Pflanzen weg. Das hat seinen Grund.

Frühe Fäulnis hat die Kartoffelpflanzen dahingerafft. Grund waren hohe Niederschläge im Frühling. Andernorts sieht’s bei Dirk Liedmann besser aus. 14 Tage Unterschied bei den Pflanztagen im Mai machen was aus. Wie es weitergeht? „Die gesamte Situation ist im Augenblick nicht einschätzbar“, erwidert Dirk Liedmann. Seine Stimme klingt nach leichter Hoffnung. Auf 22 von insgesamt 280 Hektar bewirtschafteter Fläche zieht der Bauer Kartoffeln. Noch im Oktober kann geerntet werden.

Regenmenge bricht Rekord

Doch dieser Tage sieht’s mau aus. Und das hat etwas mit dem Regenjahr 2023 zu tun. Einem feuchten Sommer folgte ein nasser Herbst. Das galt für weite Teile Europas, bis nach Spanien. „So viel Regen wie letztes Jahr hatten wir noch nie“, sagt Dirk Liedmann über Wittens Niederschlags-Bilanz. Er rechnet vor: „1300 Liter pro Quadratmeter. Normal sind 890.“ Verantwortlich sei der Klimawandel. Extremwetter häufe sich. Das zu warme Mittelmeer sorge seit Wochen für regenreiche Tiefs.

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Kartoffeln waren auf matschigen Feldern kaum zu ernten. Vielfach faulten sie kurzerhand weg. Erntemengen schrumpften, die Qualität litt. „Das gilt im Prinzip auch fürs Gemüse“, sagt Dirk Liedmann, „nur gab’s da keine Fäule.“

Tolle Knolle ist rare Ware

Die tolle Knolle wurde rare Ware. Pflanzkartoffeln waren kaum zu haben, die Lagerkartoffeln sind so gut wie weg, und Frühkartoffeln wandern vom Feld direkt in den Handel: So groß, stellt Dirk Liedmann fest, sei die Nachfrage. Ist Besserung in Sicht?

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Der Landwirt blinzelt skeptisch. Nordrhein-Westfalens Hauptanbaugebiet für Kartoffeln, ebenso für Gemüse, ist der Niederrhein. Selbst Trockenphasen versprechen keine Besserung. Wind verteilt die Fäulnis verursachenden Pilzsporen kilometerweit übers Land. Die Kartoffel-Knappheit bleibt: Da ist sich Liedmann sicher. Und Mangel treibt bekanntlich Preise.

Eigene Senfmühle kommt

Landwirtschaft ist eine Wette aufs Wetter. Bauern mit richtigem Riecher für Sonne und Regen, Wind und Wärme könne gute Umsätze machen. Dirk Liedmann und sein Team mit drei Festangestellten und vier 520-Euro-Kräften setzen auf Vielfalt. Zu Kartoffeln kommen Getreide und Ölpflanzen. Eine eigene Senfmühle ist in Arbeit.

Dirk Liedmann arbeitet mit Mühlen in der Region zusammen. Mit heimischen Bäckereien hat er langfristige Verträge. Ein kleiner Teil der Ware, darunter Nudeln aus eigenem Mehl, verkauft er freitags in seinem Hofladen. Nur Kartoffeln sind nicht verfügbar. Und nun?

„In Annen habe ich ein Kartoffelfeld, am Ende der Dortmunder Straße.“ Dirk Liedmann macht eine Kunst-Pause: „Die sind noch alle top.“