Witten. Die Arbeitslosenzahlen spiegeln nicht die Realität wider, kritisiert ein Wissenschaftler aus Witten. Was er damit meint und was er fordert.
In Witten sind nach den jüngsten Zahlen der Arbeitsagentur derzeit 4426 Männer und Frauen ohne Job. Im gesamten EN-Kreis sind es 11.710 Menschen, die Arbeitslosenquote liegt bei 6,7 Prozent. Doch diese Zahlen geben die Wirklichkeit nur sehr bedingt, wenn nicht gar verzerrt wider, sagt der emeritierte Wirtschaftsprofessor Heinz-Josef Bontrup. Die Kritik ist nicht neu.
Denn worauf der Wahl-Wittener abzielt, ist die sogenannte Unterbeschäftigung. Zu dieser werden auch die Menschen hinzugezählt, die aus verschiedenen Gründen mehr oder weniger aus der Statistik herausfallen. Zum Beispiel weil sie krank gemeldet sind oder sich in einer Qualifikationsmaßnahme befinden. Auch Menschen ab 58 Jahren, die seit mindestens einem Jahr arbeitslos gemeldet sind und in dieser Zeit kein Job-Angebot erhalten haben, gelten nach offizieller Definition nicht als arbeitslos.
Über 16.000 Menschen im EN-Kreis sind unterbeschäftigt
„Wir haben ein Riesen-Problem, und das sollte auch in seiner wahrhaftigen Größe dargestellt werden“, sagt Bontrup. Ganz konkret bedeute das, wenn man auf die Juni-Zahlen der Arbeitsagentur schaut, folgendes: Zu den 11.710 offiziell arbeitslosen Menschen kommen je nach Definition noch bis zu 4452 Personen hinzu. Insgesamt gelten damit 16.162 Einwohner des EN-Kreises als unterbeschäftigt. Das ist eine Quote von 9,1 Prozent – im Vergleich zu einer Arbeitslosenquote von 6,7 Prozent.
Allein über 1500 Männer und Frauen aus dem Kreis galten im vergangenen Monat aufgrund ihres Alters nicht als arbeitslos. Rund 1000 Menschen fielen aus der Statistik, weil sie sich in „Aktivierung“, sprich einer Maßnahme befinden.
„Unterbeschäftigung zeigt die wahre Betroffenheit“
„Um die wirkliche Betroffenheit zu zeigen, müssen auch die Unterbeschäftigten ganz deutlich genannt werden“, fordert Heinz-Josef Bontrup. Zumal für ihn diese Unterbeschäftigten schlichtweg „wegdefinierte Arbeitslose“ sind. Und das eigentliche, das soziale Problem noch deutlich größere Ausmaße hat. Man denke nur an die vielen prekär Beschäftigten, die von ihrem Gehalt nicht leben können.
Der Arbeitsagentur selbst macht der linke Wirtschaftswissenschaftler dabei keinen Vorwurf. Diese liefere die Zahlen so, wie es von der Politik gewünscht wäre. Darauf verweist auch die Agentur selbst. Wer zu den Arbeitslosen im engeren Sinne gezählt werde, sei eine politische Entscheidung, sagt Agentur-Sprecher Ulrich Brauer. „Zumal die Unterbeschäftigten ja auch explizit aufgeführt werden. Es ist eine irrige Annahme, dass sie versteckt werden.“ Menschen in Weiterbildungs- oder Eingliederungsmaßnahmen separat darzustellen, mache aus Sicht der Arbeitsagentur deshalb Sinn, weil so die Wirkung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen besser sichtbar werde.
Arbeitslosigkeit als Thema im Wahlkampf
Für Heinz-Josef Bontrup und IG-Metall-Chef Mathias Hillbrandt ist das aber nicht schlüssig. „Ja, die Zahlen werden zur Verfügung gestellt. Aber sie werden nicht gesellschaftlich transportiert“, sagt der 44-Jährige. Kaum jemand schaue so genau in die Tabellen. In den Nachrichten etwa würden nur die blanken Arbeitslosenzahlen verkündet.
Ehrliche Zahlen würden die Politik unter Druck setzten, hofft Bontrup. „Dass man sich endlich um dieses große Übel kümmert. Ich verstehe nicht, warum keine Partei das Thema Arbeitslosigkeit in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfes stellt.“ Denn schließlich verursache die Arbeitslosigkeit dem Staat auch enorme Kosten.
Alternative Wirtschaftspolitik gefordert
Heinz-Josef Bontrup war von 1996 bis 2019 Professor für Wirtschaftswissenschaft mit dem Schwerpunkt Arbeitsökonomie an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen-Bocholt-Recklinghausen. Er wurde 2018 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Für sein „lebenslanges Engagement im wirtschaftswissenschaftlich-sozialpolitischen Bereich und seine umfangreich ehrenamtliche und bundesweite Aufklärungsarbeit in sozialpolitischen und wirtschaftlichen Fragen“. Bontrup ist Mitglied in der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik. In dieser haben sich Wissenschaftler und Gewerkschafter zusammengeschlossen, die wirtschaftspolitische Vorschläge und Perspektiven erarbeiten wollen, die unter anderem auf sichere Arbeitsplätze, einen Ausbau des Systems der sozialen Sicherheit und wirksamen Umweltschutz abzielen. Sie kritisieren Theorien, die diese Themen „den Gewinnen der Privatwirtschaft nach- und unterordnen“.