Mülheim/Essen/Duisburg. Junger Mann aus Essen kracht in den Kleinwagen einer Familie aus Mülheim. Eine Frau stirbt. Der Prozess hat begonnen. Der Unfallfahrer schweigt.

Als die Fotografen und Kameraleute Saal 201 im Duisburger Landgericht verlassen haben, lüftet Nico B. auf der Anklagebank die rote Aktenkladde vor seinem Gesicht. Zum Vorschein kommt ein junger schmaler Mann, modischer Kurzhaarschnitt, adretter Dreitagebart. Blaues Hemd, Blue Jeans. Später dann wieder Handschellen. Er wirkt nicht wie ein typischer Raser oder Autoposer. Eher wie ein BWL-Student im falschen Film. Doch der inzwischen 28-jährige Deutsche aus Essen soll als Raser einen schrecklichen Unfall in Mülheim verursacht haben, bei dem eine damals 46-Jährige aus Mülheim tödlich verletzt worden ist. Am Freitag hat am Landgericht Duisburg unter großem Medienandrang und regem Zuschauerinteresse der Prozess gegen B. begonnen. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vollendeten Mord in einem und versuchten Mord in zwei Fällen vor.

Die Anklage der Staatsanwaltschaft skizziert, was an diesem fatalen 7. März dieses Jahres geschehen sein soll. Offenbar will B. die 300 PS seines Cupra Leon ausreizen, ausgerechnet auf der viel befahrenen Aktienstraße in Mülheim, wo Tempo 50 gilt. Auf 100 bis 120 Stundenkilometer beschleunigt er den Wagen in Richtung Mülheimer Innenstadt, überholt im Slalom mehrere Fahrzeuge, überfährt rote Ampeln, so die Anklage. Die Uhr zeigt 20.14 Uhr, als der Essener die Kreuzung an der Anschlussstelle Winkhausen der A40 erreicht. Seit geraumer Zeit steht die Ampel in seiner Fahrtrichtung „Rot“, es muss weithin sichtbar gewesen sein. B. ignoriert das.

Um 22.04 Uhr wird Sandra K. im Krankenhaus für tot erklärt

Familie K., Vater, Mutter und Sohn, will zu diesem Zeitpunkt gerade von der A40 auf die Aktienstraße einbiegen. Michael K. fährt, aus Richtung Essen kommend, seine Frau Sandra sitzt auf dem Beifahrersitz. Sie haben „Grün“, gerade springt ihre Ampel auf „Gelb“. Im Kreuzungsbereich kommt es zur folgenschweren Kollision. Der Cupra rauscht seitlich in den Smart ForFour der Familie. Nico B. hat laut Gutachten 119 Stundenkilometer auf dem Tacho, „Gaspedal am Anschlag“, heißt es in der Anklage. Der Unfallfahrer und sein Beifahrer werden wie der Vater und der Sohn schwer verletzt. Um 22.04 Uhr wird Sandra K. im Uniklinikum Essen für tot erklärt.

Fünf Menschen waren bei dem Raser-Unfall in Mülheim an der Ruhr im März 2024 verletzt worden, darunter eine Frau tödlich.
Fünf Menschen waren bei dem Raser-Unfall in Mülheim an der Ruhr im März 2024 verletzt worden, darunter eine Frau tödlich. © Feuerwehr Mülheim an der Ruhr/dpa

Es werde, erklärt sein Verteidiger Baris Gültekin beim Prozessauftakt vage, „an einem der nächsten Verhandlungstage eine Erklärung zur Person und zur Sache erfolgen“. Bislang hat B. in den neun Monaten seit dem Unfall nichts zu den Tatvorwürfen gesagt. Und er hat auch kein Wort des Bedauerns an die Hinterbliebenen des Opfers gerichtet. Dabei bleibt es am Freitag, wo der Ehemann und die Tochter der Getöteten in dunklen Farben dem Angeklagten als Nebenkläger gegenüber sitzen.

Nebenklage-Vertreter hat „schlechten Eindruck vom Angeklagten“ bekommen

Er habe einen Eindruck vom Angeklagten bekommen, sagt Rechtsanwalt Carsten Engel, der die Familie vertritt, „und zwar einen schlechten“. Dass der weder am Freitag noch im Vorfeld Kontakt zu den Hinterbliebenen gesucht habe, sei „sehr ernüchternd“. Die Familie erhoffe sich von dem Prozess vor allem Aufklärung: „Es ist die Frage nach dem ,Warum‘. Warum hat er das getan? Das steht im Vordergrund.“

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Engel äußert sich auch dazu, wie es der Familie heute geht. Sie sei „relativ gefasst“ und habe „sich mit der Situation auseinander gesetzt“. Als Nebenkläger wollten der Ehemann und die beiden Kinder den Prozess verfolgen: „Der Verlust der Mutter wirkt stark. Und der wird auch nicht in neun Monaten aufgearbeitet sein.“ Die Familie habe im Vorfeld nicht damit gerechnet, dass sich der Angeklagte beim Auftakt nicht äußert. Das habe sie auch „persönlich enttäuscht“.

Polizeistiftung David+Goliath sammelt Geld für Hinterbliebene

Im Frühjahr hatte der Unfall eine Welle des Entsetzens und der Anteilnahme ausgelöst. Die Polizeistiftung David+Goliath sammelte Spenden für die Hinterbliebenen. Der Familie seien später knapp 16.000 Euro übergeben worden, sagt deren Vorsitzender Thomas Weise am Freitagmorgen auf Nachfrage.

Dass am ersten Verhandlungstag in Duisburg nur die Anklage verlesen wird, hat sich im Vorfeld abgezeichnet. Zehn weitere Termine hat die Sechste Große Strafkammer bislang angesetzt. An den nächsten beiden Tagen sind Polizisten geladen.

Urteil am Landgericht Duisburg könnte im März 2025 fallen

Die Kammer hat auch den Ehemann als Zeugen bestimmt. Er soll schildern, wie er den Unfall erlebt hat. B. sitzt seit seiner Festnahme kurz nach dem Unfall in Untersuchungshaft. Er soll, so die Staatsanwaltschaft, ein Mörder aus Heimtücke und mit niederen Beweggründen gewesen sein. Ihm droht im Fall eines Schuldspruchs eine lebenslange Freiheitsstrafe.

Ein Urteil könnte Ende März fallen. Sollte das ergehen, käme es zwei Wochen nach dem ersten Todestag des Opfers. Nebenklagevertreter Engel wird noch gefragt, welche Strafe er sich wünsche: „Das ist die Frage von Recht und Moral“, antwortet er, „moralisch wird es wahrscheinlich nie eine gerechte Strafe geben.“