Mülheim. Das Mülheimer Familienunternehmen Gerstel, ein Global Player für Labortechnik, geht an einen Investor. Die Chefs begründen diesen Schritt.
Das war ein Paukenschlag, als Mülheims Top-Unternehmen Gerstel unlängst bekannt gab, seine Familientradition nicht in eigener Hand zu behalten und sich in die AAT-Gruppe von Investor Battery zu integrieren. Wir sprachen mit Inhaber Holger Gerstel und Geschäftsführer Peter Wiersdörfer über die Beweggründe und Perspektiven für den Global Player, seine 220-köpfige Belegschaft und den Heimatstandort.
Herr Gerstel, Sie werden nächstes Jahr 65. Vor wenigen Jahren haben Sie noch mit voller Überzeugung gesagt, Sie seien gerade dabei, ihr Familienunternehmen in die dritte Generation zu überführen. Wieso kommt es jetzt anders?
Holger Gerstel: Die zurückliegenden Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Wichtige Projekte sind ins Stocken geraten, haben sich zum Teil gegenseitig blockiert. Die Corona-Zeit hat ihres beigetragen, dazu der Fachkräftemangel, Lieferengpässe. Zeitgleich nimmt der Wettbewerbsdruck zu, vor allem aus dem außereuropäischen Ausland. Als verantwortungsbewusster Unternehmer muss man in der Lage sein, persönliche Ansichten und Pläne hintenanzustellen und Maßnahmen zu ergreifen, die das Fortbestehen des Unternehmens und die Arbeitsplätze auf lange Sicht sichern.
Mit Investor Battery will Mülheimer Firma schneller Innovationen an den Markt bringen
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Sie sprechen von einem Projektstau. Hat der Ihnen zuletzt wirtschaftliche Schwierigkeiten bereitet?
Gerstel: Nein, das nicht. Allerdings galt es, den sich abzeichnenden Schwierigkeiten zu begegnen. Etwa in puncto der Geschwindigkeit, mit der Produkte und Neuentwicklungen in den Markt kommen. Hinzu kommt: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind nicht gerade rosig. Die Kooperation mit den international tätigen Unternehmen der AAT-Gruppe, die aufgestellt sind wie wir und auch ähnliche Märkte bedienen, birgt für uns erhebliches Synergiepotenzial. Mittel- und langfristig wird Gerstel als Marke durch die Integration in die AAT-Gruppe profitieren.
Gab es in Ihrer Familie niemanden, der ausgeguckt war, das Unternehmen weiterzuführen?
Gerstel: Als Unternehmer bin ich gefordert, die Zeichen der Zeit zu erkennen und folgerichtig zu handeln.
Mülheimer Inhaber: „Wer in Gerstel investiert, sichert Arbeitsplätze“
Glauben Sie zu wissen, was Ihr Vater Ihnen jetzt in dieser Situation gesagt hätte?
Gerstel: Gerstel hat sich unter unserer Leitung vom lokalen Nischenanbieter zu einem Global Player entwickelt. Ich bin zuversichtlich, er würde darauf vertrauen, dass ich auch heute die richtige Entscheidung für das Unternehmen treffe.
„Ich bin zuversichtlich, mein Vater würde darauf vertrauen, dass ich auch heute die richtige Entscheidung für das Unternehmen treffe.“
Sie haben stets betont, dass die Zukunftssicherung der rund 220 Arbeitsplätze im Unternehmen oberste Priorität habe. Was können Sie Ihrer Belegschaft nun an Sicherheit mitgeben, wenn AAT übernimmt?
Gerstel: Die Entscheidung, Gerstel in die AAT-Gruppe zu integrieren, ist nicht leichtfertig getroffen worden. Wir haben die Interessen des Investors kritisch unter die Lupe genommen. Für uns wurde schnell ersichtlich, AAT ist daran interessiert, Gerstel in seiner jetzigen Form zu erhalten. Wir teilen gemeinsame Interessen: Wir wollen Synergieeffekte nutzen und Märkte weiterentwickeln. Das Know-how unseres Unternehmens steckt in den Köpfen unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie sind das Kapital. Wer in Gerstel investiert, sichert Arbeitsplätze.
Peter Wiersdörfer: Und zwar auch und vor allem am Gerstel-Stammsitz in Mülheim. Das Bekenntnis der AAT-Gruppe, dem Standort treu zu bleiben, ist kein Lippenbekenntnis. Ohne auf Details der Vertragsvereinbarungen einzugehen: Die Adresse der Gerstel-Zentrale bleibt zumindest für die nächsten zehn Jahre plus optional weiterer fünf Jahre der Eberhard-Gerstel-Platz 1.
Gerstel-Geschäftsführer spricht von „durchweg positivem Feedback“
Wie haben Ihre Mitarbeiter die Nachricht des Eigentümerwechsels aufgenommen?
Wiersdörfer: Noch am Tag der Vertragsunterzeichnung haben wir die Belegschaft informiert. Die Entscheidung über die Fusionierung traf die meisten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unvorbereitet. Da wir aber die Karten offengelegt haben, hatte jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin die Möglichkeit, sich zu informieren und sich ein Bild von der AAT-Gruppe und ihren Mitgliedern zu machen. Was dazu führte, dass wir ein durchweg positives Feedback auf unsere Entscheidung erhalten haben. Die Chancen, die sich dem Unternehmen durch den Zusammenschluss bieten, überwiegen die Kritik.
„Die Chancen, die sich dem Unternehmen durch den Zusammenschluss bieten, überwiegen die Kritik.“
Herr Gerstel: Wie viel Wehmut verspüren Sie, das Familienunternehmen, das Erbe Ihres Vaters Eberhard, aus der Hand zu geben?
Gerstel: Seit mehr als 50 Jahren ist das Unternehmen für mich Dreh- und Angelpunkt meines privaten und beruflichen Lebens. Was denken Sie? Ich war mir allerdings immer auch im Klaren darüber, meine aktive Zeit im Unternehmen endet irgendwann einmal – wenn die Weichen gestellt und das Fortbestehen des Unternehmens gesichert ist.
Holger Gerstel: „Mülheim ist und bleibt Gerstel-Standort“
Bleibt es beim lupenreinen Label „Made in Mülheim“ für Gerstels maßgeschneiderte Analysetechnik?
Gerstel: Gerstel produziert ausschließlich in Mülheim. Unser technologisches und anwendungsspezifisches Know-how hat mit den Menschen zu tun, die für uns arbeiten. Es hat Jahrzehnte gebraucht, es aufzubauen. Es erfordert eine Menge Energie und Aufwand, es sich anzueignen und weiterzugeben. Mülheim ist und bleibt Gerstel-Standort.
Gerstel ist eine Weltmarkt-Größe für Geräte und Systeme chemischer Analytik: In welcher Weise kann die Firma von den neuen Partnerfirmen auf der AAT-Plattform profitieren?
Gerstel: Die Unternehmen der AAT-Gruppe haben ihren Schwerpunkt in der Automatisierung, wie sie in Laboren für die chemische Analytik zur Anwendung kommt. Und doch unterscheiden sie sich. Dabei mag sich herausstellen, dass die Schwäche des einen die Stärke des anderen ist. Es geht am Ende darum, Synergien zu erkennen und zielführend zu nutzen. Die Folge ist, dass wir einander in der AAT-Gruppe etwas zu bieten haben, was unterm Strich jedes einzelne Unternehmen in seiner Entwicklung und Marktpräsenz fördert und die Gruppe im globalen Kontext stärkt. Wenn diese Botschaft ankommt, hat Gerstel gewonnen: Unsere Mitbewerber sitzen außerhalb von AAT.
Digitalisierung und auch KI bleiben wichtiges Thema für Global Player aus Mülheim
Digitalisierung und KI sind große Zukunftsthemen auch für Gerstel: Wie gut gerüstet sehen Sie Ihr Unternehmen für die Zukunft?
Gerstel: Die softwareseitige Integration und digitale Vernetzung verschiedener Instrumente in die meist hochkomplexen Analysenprozesse ist heutzutage gängige Praxis. Immer mehr Proben, immer mehr Parameter, auf die es in der Untersuchung von Lebensmittel-, Umwelt- oder Materialproben ankommt, erfordern besondere Software-Skills. Die damit verbundenen Kompetenzen gilt es weiter zu stärken und auszubauen. Digitalisierung und auch KI bleiben ein wichtiges Thema für Gerstel.
Sie beiden sollen, so hieß zum anstehenden Eigentümerwechsel, den „Übergang aktiv begleiten“. Was genau heißt das: Sind Ihre Tage als Firmenchefs gezählt?
Gerstel: Mit Erreichen des Rentenalters endet für mich mein Berufsleben, zumindest theoretisch. Ich bin 65 Jahre, Peter Wiersdörfer ist etwas jünger. Wir haben Gerstel auf den Weg gebracht. Die Zukunft des Unternehmens ist auf absehbare Zeit gesichert. Das bewirkt zu haben, ist für mich ein wichtiges Ergebnis meiner beruflichen Lebensleistung. Ob und, wenn ja, in welcher Form oder wie lange die AAT-Gruppe auf unsere Mitwirkung setzt, liegt in der Hand der neuen Firmenleitung. Wir sind bereit, den Prozess der Transformation mit unserer Expertise zu begleiten.
Abschied vom Familienunternehmen: „Es wird seine Zeit brauchen...“
Ganz persönlich, Herr Gerstel: Wie werden Sie sich verabschieden, wenn Sie aus dem Betrieb ausscheiden, der Ihr Leben bedeutet hat?
Gerstel: Für mich ist das Ende gar nicht so im Bewusstsein. Vielleicht, weil die Immobilie am Eberhard-Gerstel-Platz 1 im Familienbesitz bleibt und Gerstel dort weiterhin tätig sein wird.
Trotzdem: Wie stellen Sie es sich vor, wenn Sie nach dem letzten Arbeitstag im Familienunternehmen aus der Tür rausgehen?
Gerstel: Darüber mache ich mir Gedanken, wenn der Tag absehbar ist. Es wird seine Zeit brauchen, zu akzeptieren, dass man nicht mehr in der Verantwortung steht. Für mich wird es darum gehen, einen Abschluss zu finden. Das Unternehmen in guten Händen zu wissen, mag hierbei eine beruhigende Wirkung entfalten.
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