Mülheim. Nach einem Horrorunfall an Rosenmontag auf der Duisburger Straße sucht Volker Backes bis heute Zeugen. Er will endlich wissen, was geschehen ist.

Erst nach Kettwig und Hösel, dann via Entenfang, Sechs-Seen-Platte und Duisburger Zoo zurück nach Mülheim-Holthausen: Für Rosenmontag 2024 hatte sich Radfahrer Volker Backes diese Route vorgenommen. Eine ganz normale Tour; seit Jahren reißt er im Monat rund 1000 Kilometer mit dem Mountainbike „ohne Motor!“ ab. „Das ist halt mein Sportgerät“, so der 60-Jährige. Seit jenem 12. Februar allerdings steht es ungenutzt in der Ecke. Auf dem Heimweg, keine fünf Kilometer von zu Hause, stürzte der Mülheimer aus heiterem Himmel und verletzte sich schwer. Nur dem Helm habe er es zu verdanken, dass er heute kein schwerster Pflegefall ist oder sogar tot, vertraute ihm ein Arzt später an.

„Ich weiß noch, wie ich hinter der Unterführung an der Duisburger Straße eine Frau auf ihrem E-Bike überholt habe“, so Backes. „Sie ist 28 km/h gefahren, ich muss also schneller gewesen sein, so um die 30 km/h.“ Er erinnert sich daran, wie er einen Blick in die Liebigstraße wirft, damit kein Auto von rechts kommt. Rekonstruieren kann er auch noch die grüne Ampel gegenüber der Feuerwehr-Einfahrt. „Ich habe noch gedacht, ,gib Gas‘.“ Dann? Absolut nichts mehr, totaler Blackout.

Mülheimer wollte sich gleich nach dem Unfall wieder aufs Rad setzen - die Sanitäter stoppten ihn

„Als ich wachgeworden bin, haben mich drei Gestalten angeguckt. Und Sachen gefragt wie: Wissen Sie, wie Sie heißen? Kennen Sie Ihr Geburtsdatum? Welchen Tag haben wir heute? Zum Glück wusste ich alles sofort.“ Er habe sich wieder aufs Rad setzen und weiterfahren wollen. Die Männer wussten das zu verhindern, teilten ihm behutsam mit: „Sie hatten einen schweren Unfall.“ Erst da habe er kapiert, so Backes, „dass das Rettungssanitäter sind und ich in einem Krankenwagen liege“. Schmerzen spürte der 60-Jährige zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Per Handy rief er seine Frau an und seinen Sohn, berichtete ihnen, dass er nun ins St. Marien-Hospital gebracht werde. Dort gab es erneut Fragen über Fragen: „Haben Sie Gefühl in den Beinen? Können Sie ihre Füße bewegen?“ Das alles, weiß Backes noch, konnte er zum Glück bejahen. Und so machte ihm ein Arzt schon etwas Mut: „Seien Sie froh: Knochen wachsen wieder zusammen.“ Er sollte Recht behalten. Doch zunächst standen dem Verunglückten harte Tage und Wochen bevor. Mit Erinnerungslücken, elenden Schmerzen und einer weiteren Horrordiagnose: Hirnblutungen.

Das Becken war fünfmal gebrochen, die dritte und vierte Rippe rechts sowie das Schlüsselbein links

Vier Monate nach seinem schweren Unfall kann Volker Backes wieder lachen. Doch noch immer sucht er nach Erklärungen für seinen Sturz. Seine Hoffnung. „Vielleicht hat noch jemand etwas gesehen und kann es mir erzählen.“
Vier Monate nach seinem schweren Unfall kann Volker Backes wieder lachen. Doch noch immer sucht er nach Erklärungen für seinen Sturz. Seine Hoffnung. „Vielleicht hat noch jemand etwas gesehen und kann es mir erzählen.“ © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Das Becken von Volker Backes war fünfmal gebrochen, die Mediziner sprachen von Einblutungen. Auch die dritte und vierte Rippe rechts waren durch und das Schlüsselbein links. Ihm fehlt jede Erinnerung an die ersten Untersuchungen, „ich weiß nicht mal mehr, dass meine Familie gekommen ist“. Doch ein spezieller Moment hat sich Backes eingebrannt: „Als feststand, dass ich im Uniklinikum Essen weiterbehandelt werden muss, hat man mich für die Fahrt auf der Liege fixiert, dann den Gürtel zugezogen. Da habe ich sehr klar gespürt, wo die Brüche sind. Das waren brutale Schmerzen.“

Wegen der leichten Hirnblutungen kam er vorübergehend auf die Intensivstation. Für die Familie war dieser Befund ein weiterer Tiefschlag, machte noch mehr Angst, als schon alles andere zuvor. Ehefrau Gaby Backes (58) hatte damals „das Gefühl, jeden Schmerz am eigenen Leib mitzufühlen“. Die Sorge um Volker wuchs.

„Wochenlang habe ich zehn Schmerztabletten am Tag genommen und nachts besonders starke“

Er hingegen wurde von Tag zu Tag entspannter. „Ich habe mich nicht bekloppt gemacht.“ Zum einen lag das wohl daran, „dass ich wochenlang zehn Schmerztabletten am Tag genommen habe und nachts besonders starke. Da ist einem irgendwann alles egal“. Zum anderen habe er sich „auch früher mal verletzt“. Schien- und Wadenbeinbruch, Kahnbeinbruch, Radiusfraktur: Backes‘ Liste der Blessuren ist beachtlich.

Nach zwei Wochen im Krankenhaus samt umfangreicher OP kam der Mülheimer per Rettungswagen nach Hause. Dort musste er weitere sechs Wochen liegen, seine Frau Gaby versorgte ihn rund um die Uhr.
Nach zwei Wochen im Krankenhaus samt umfangreicher OP kam der Mülheimer per Rettungswagen nach Hause. Dort musste er weitere sechs Wochen liegen, seine Frau Gaby versorgte ihn rund um die Uhr. © Backes

Nach zwei Wochen in der Klinik musste er weitere sechs Wochen zu Hause im Bett verharren, bevor er erste Schritte an Krücken wagen konnte. Seine Frau kümmerte sich rund um die Uhr, manchmal war die Belastung so groß, dass Tränen flossen. Doch nach und nach wurden die Spaziergänge ihres Mannes lang und länger. Und irgendwann war auch die ambulante Reha abgeschlossen. Mittlerweile ist der 60-Jährige „schmerzfrei und fit“. Und hat jüngst wieder angefangen zu arbeiten. Backes ist als Vermessungstechniker bei der Stadt angestellt.

„Irgendwann will ich wieder fahren, noch bremst die Angst mich aber aus“

Aufs Rad aber wagt er sich noch nicht zurück: „Die Angst bremst mich aus.“ Bis heute wisse er leider nicht, warum es überhaupt zu dem verheerenden Sturz gekommen ist. Immer wieder stelle er sich die gleichen Fragen: „Was ist passiert? Habe ich das Bewusstsein verloren? War ich abgelenkt? Wurde eine Autotür geöffnet?“ Für die Ärzte sei es normal, dass ein Gehirn ein schweres Unfallgeschehen löscht; „sie sprechen von posttraumatischer Amnesie“. Ihn aber lasse das Erlebte und diese Lücke im Gedächtnis nicht los, „auch, weil ich Schiss habe, dass es wieder passiert“.

Die Frau auf dem E-Bike, die er überholt hatte und die mit ihrem Kind im Anhänger unterwegs zum Rosenmontagszug war, sei bisher die einzig bekannte Zeugin. „Sie hat ausgesagt, dass ich gegen eine Mülltonne gefahren bin, dann einen Salto gemacht habe, mit den Füßen immer noch in den Klickpedalen.“ Für Backes sind trotzdem „viele Fragen offen“. Er würde sich freuen, wenn sich weitere Zeugen melden.

Die Unfallzahlen mit Beteiligung von Radfahrern haben 2023 einen traurigen Höhepunkt erlangt

Sein Crash wird im kommenden Jahr Eingang finden in die Unfallstatistik von 2024. Jüngst hat die Polizei die Daten für 2023 bekannt gegeben. Danach sind damals in Mülheim insgesamt 196 Rad- und Pedelecfahrer verunglückt. 2022 waren es 176. Und 2021 zählte man 120 Fälle. Die Auswertung reicht zurück bis 2014 und zeigt: Die Unfallzahlen mit Beteiligung von Radlern haben jüngst einen traurigen Höhepunkt erlangt. Zum Glück ist 2023 kein einziger Radfahrer ums Leben gekommen. Anders war das 2017, als eine Schülerin (13) von einem Betonmischer erfasst und getötet wurde. Und auch 2024 gibt es bedauerlicherweise bereits einen Todesfall: Anfang März ist ein Rennradfahrer (52) nach einem Unfall auf der Konrad-Adenauer-Brücke gestorben.

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Laut Statistik haben sich im vergangenen Jahr 19 Radfahrer und 13 Pedelecfahrer bei Unfällen schwer verletzt. 2022 waren es 21 bzw. 12 und im Jahr davor 11 bzw. 5 Schwerverletzte. Zudem haben sich 2023 insgesamt 118 Radfahrer und 46 Pedelecfahrer leicht verletzt. 2022 waren es 95 bzw. 48 und im Jahr davor 90 bzw. 14 Leichtverletzte. Polizeisprecherin Sylvia Czapiewski wundert der Anstieg nicht: „Die Zahl der Fahrräder und Pedelecs nimmt stetig zu. Dementsprechend steigt das Risiko für Unfälle.“

Besondere Unfallschwerpunkte für Radfahrer sieht die Polizei in Mülheim nicht mehr

Auffällig sei, dass junge Menschen häufiger verunglückten; „das liegt auch daran, dass die Verkehrsschulen während Corona zu waren“. Und auch ältere Menschen seien überproportional gefährdet. Zumal immer mehr auf E-Bikes umsteigen: „Den Umgang damit muss man wirklich lernen“, so Czapiewski. Besondere Unfallschwerpunkte für Radfahrer sehe die Polizei in Mülheim übrigens nicht mehr. „Früher war das die Duisburger Straße, aber da wurde viel getan.“ Parkplätze an unübersichtlichen Stellen seien verschwunden, man habe Stopp-Schilder aufgestellt und solche, die auf kreuzende Radfahrer hinweisen.

Wie Volker Backes‘ Geschichte zeigt, ist das Tragen eines Helmes unerlässlich. „Man sollte den auch regelmäßig austauschen“, so Czapiewski. „Denn kleinste Schäden sind oft nicht erkennbar, können aber schwerwiegende Folgen haben.“ Bei Backes hat die Kopfbedeckung ihren Zweck erfüllt. Der Aufprall war allerdings derartig heftig, dass ein Stück aus dem Helm herausgebrochen ist. „Der Arzt hat gesagt, so hätte andernfalls mein Kopf ausgesehen.“ Als Radfahrer, so ist das Fazit nach der missglückten Rosenmontagstour, müsse man auf hiesigen Straßen „leider mit der Angst vor Unfällen leben“. Und dennoch: Eines Tages werde er gewiss wieder in die Pedale treten. „Einen neuen Helm habe ich schon.“

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