Moers. Im Interview spricht der Bundestagsabgeordnete für Moers, Neukirchen-Vluyn und Krefeld über Erfolge, die Ampel und die AfD. Was ihn beunruhigt.
Die parlamentarische Sommerpause in Berlin ist bald vorbei, Jan Dieren ist aktuell viel in Moers, Neukirchen-Vluyn und Krefeld unterwegs. Haustürgespräche, Sprechstunden, Diskussionsrunden, Veranstaltungen - der Terminkalender des SPD-Bundestagsabgeordneten ist prall gefüllt. Im Interview mit Diego Tenore blickt Dieren auf Erfolge und Schwierigkeiten der vergangenen drei Jahren zurück.
Herr Dieren, Sie sind jetzt seit 2021 Bundestagsabgeordneter. Wie blicken Sie auf die vergangenen drei Jahre zurück?
Vergleicht man die Legislaturperiode mit anderen, war diese bis jetzt eher eine turbulente. Vieles, was ich mir vorgenommen habe und was sich auch die SPD-Fraktion vorgenommen hat, ist tatsächlich passiert. Was sich aber besonders gezeigt hat: Es gab eine Zäsur, das ist der Überfall auf die Ukraine und alles, was damit zusammenhängt, wirtschaftliche Folgen, Sanktionen, Preissteigerungen und Inflation. Das waren Krisen, die rückblickend die vergangenen drei Jahre sehr anders haben aussehen lassen, als sie ohne das gewesen wären. Da hätte man sagen müssen: Wenn die Umstände sich ändern, dann muss sich auch das ändern, was man sich vornimmt. Das ist so aber nicht passiert. Vieles aus dem Koalitionsvertrag haben wir umgesetzt und vieles davon ist richtig. Als wir vor drei Jahren gesagt haben, wir wollen den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöhen, war das gut. Das ist es auch heute noch, aber mit Blick auf die Inflation nicht mehr ausreichend. So ist es mit vielen Projekten.
Können Sie konkrete Beispiele nennen?
Anders als die Erhöhung des Mindestlohns, waren die Gas- und Strompreisbremse nicht im Koalitionsvertrag vereinbart, sondern eine Reaktion auf die geänderten Umstände. Da haben wir das erste Mal seit vielen Jahren gesagt, dass wir in den Markt eingreifen und Preise festsetzen müssen. Das schien vielen vorher undenkbar, war aber dringend nötig. Einige gesellschaftspolitische Veränderungen wie die Aufhebung des Verbots, über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren, die Möglichkeit, den Geschlechtseintrag zu ändern und einiges mehr haben aber auch gezeigt, was im Rahmen dieser Koalition möglich ist.
Was waren persönliche Meilensteine für Sie im Wahlkreis und in Berlin?
Es gibt zwei Dinge, die mir direkt einfallen. Das ist die Finanzierung für das Moers Festival, die für fünf weitere Jahre gesichert ist. Die 1,6 Millionen liegen deutlich über dem, was wir bisher hatten. Für einen möglichen Neubau des Schlosstheaters haben wir eine Zusage über 16 Millionen Euro vom Bund. Auch das ist keine Kleinigkeit. Man mag das Nischenkultur nennen, aber es geht bei solchen kulturellen Institutionen nicht nur darum, ob man hingeht oder nicht. Hätte Moers eine Hochschule, wäre ja auch die nicht nur für die Studenten da, sondern hätte positive Auswirkungen für alle. Auch das Moers Festival und das Schlosstheater sind Aushängeschilder und prägen vieles, was in der Stadt passiert.
In Berlin ist mein Hauptschwerpunkt das Thema Mitbestimmung. Da erarbeite ich für die SPD-Fraktion ein Konzept für mehr Demokratie in der Arbeitswelt. Ich will, dass in den Betrieben und Unternehmen mehr Entscheidungen nicht über die Köpfe der Beschäftigten hinweg, sondern demokratisch getroffen werden. Das habe ich vorangebracht und würde es als Erfolg verbuchen.
Wie stehen Sie zur Ampelkoalition? Glauben Sie, sie hat bei der kommenden Wahl eine Zukunft?
Zu Beginn der Koalition dachte ich, dass bei allen Widersprüchen doch einiges erreicht werden kann. Dass sich aber so große Konflikte entwickeln, habe ich nicht vorhergesehen. Wir mussten in einem kurzen Zeitraum eine große Menge an Geld mobilisieren. Da gibt es einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Sozialdemokraten und FDP. Die Frage ist, ob man bei der nächsten Bundestagswahl weniger Konflikte erwarten kann. Das würde ich nicht sagen.
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Wenn wir uns die Diskussion über den Haushalt anschauen, muss man sagen, dass er den Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht wirklich gerecht wird. Ich hoffe, wir schaffen es, dass der Haushalt nicht zu einem Kürzungshaushalt wird. Aber schon jetzt ist klar: selbst wenn wir nicht kürzen, reicht es nicht aus. Straßen, Schienen, Brücken, Schulen müssen saniert werden, wir brauchen mehr Erzieher, Lehrer und Pflegekräfte – all das kostet Geld. Das bleibt eine Herausforderung für die nächsten Jahre. Und da wird es weitere Konflikte geben.
Glauben Sie, das spielt anderen Parteien in die Karten? Wie lässt sich erklären, dass die AfD einen bemerkenswerten Zuspruch erhält?
Ich höre immer wieder: Wenn ihr euch streitet, spielt das der AfD in die Karten. Ich bin da anderer Auffassung. Natürlich kann Streit unprofessionell aussehen, das hilft niemandem. Gleichzeitig gibt es Dinge, bei denen es wichtig ist, dass wir streiten. Wir müssen klarmachen, wer wofür steht. Ein Beispiel: Ich bin der Auffassung, dass es nicht in Ordnung ist, dass es in Deutschland Menschen gibt, die Milliarden an Vermögen anhäufen, während es an Lehrern mangelt und die Straßen hier nicht mehr saniert werden können, weil das Geld dafür fehlt. Da ist die FDP anderer Auffassung. Ein „streitet euch nicht“ verwischt diese Unterschiede.
Mein Eindruck ist, dass es eine große Enttäuschung gibt. Viele denken: „Ihr kümmert Euch nicht um meine Interessen.“ Das hat sich über Jahre angestaut und entlädt sich jetzt in einer Wut, die die AfD aufgreift. Wenn ich an Türen klingle und mit Leuten spreche, spüre ich, dass sie auch auf die SPD wütend sind und diese Wut an mir auslassen. Ich verstehe, dass die Leute enttäuscht sind. Auch, dass sich das in Wut übersetzt. Was ich nicht verstehen kann, ist, wenn sie dann die AfD wählen. Das hilft ihnen nicht, die AfD interessiert sich nicht für die Interessen dieser Menschen. Ich muss aber auch sagen, dass es bislang weder die SPD noch andere Parteien geschafft haben, diese Enttäuschung und Wut ernsthaft anzusprechen und darauf wirkliche Antworten zu geben.
Wie lässt sich dieses Dilemma lösen?
Ich höre häufig sowas wie: „Für die Geflüchteten habt ihr es ja, aber für mich nicht. Für Radwege in Peru ist Geld da, aber für Moers nicht.“ Da steckt genau diese Enttäuschung drin. Es stimmt ja, dass gerade zu wenig Geld da ist. Und es ist auch richtig, dass die Leute darüber wütend sind. Die Wut entlädt sich aber bei den Falschen. Ich stelle dann oft die Frage: Stellt euch vor, es wäre Geld für Straßen, Kitas und Co. da, würdet ihr dann immer noch sagen, für Geflüchtete sollte kein Geld da sein? Da hat noch nie jemand Ja gesagt. Und wenn ich diese Frage stelle, ist das der Moment, an dem sich das Gespräch drehen lässt.
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Dann können wir darüber reden, was wir tun können, um dieses Geld zu bekommen. Das liegt nicht an den Geflüchteten, sondern an Leuten, die Steuern hinterziehen, die Steuerlöcher nutzen und daran, dass wir in Deutschland Spitzensteuersätze gesenkt und Vermögenssteuer ausgesetzt haben. Wenn man sich die Parteien im Bundestag anguckt und schaut, wer bereit ist, an die richtig hohen Vermögen in diesem Land zu gehen, dann sind das nicht die AfD, die CDU oder die FDP. Und die anderen haben keine Mehrheit. Ich bin angetreten, um dafür zu kämpfen, dass das Mehrheiten bekommt. Ich will politisch daran arbeiten, diese Wut genau dafür einzusetzen.
Macht Ihnen die AfD-Prognose mit Blick auf die Landtagswahlen im Osten Angst?
Ja. Es ist nicht absehbar, dass die Gründe für Wut wegfallen. Dadurch wird das Potenzial einer AfD zunehmen. Dann gibt es noch Leute in konservativen Parteien, die bereit sind, mit denen zu koalieren. Der Blick zurück in die Geschichte zeigt, dass die AfD gar nicht aus eigener Kraft Mehrheiten erringen muss. Es reicht, wenn in bürgerlichen Parteien Leute bereit sind, ihnen dazu zu verhelfen.
Wenn die Gewaltphantasien der AfD so in Staatsgewalt übersetzt werden, dann macht mir das Angst. Um dem wirksam etwas entgegenzusetzen, ist es nötig, diese Wut und Enttäuschung anzusprechen und sich nicht davon zu distanzieren. Die Wut ist ja nicht falsch. Wir müssen sie aber in politische Kraft übersetzen, um für das zu sorgen, was wirklich im Interesse der Menschen ist: höhere Löhne, bessere Renten, gute Bildung, ein stabiles Gesundheitssystem und so weiter.
Wie optimistisch sind Sie, dass das bis zur Bundestagswahl 2025 glücken kann?
Ich will hier vor Ort meinen Teil dazu beitragen. Ob das am Ende erfolgreich ist, weiß ich nicht. Die Umfrageergebnisse der SPD machen mir in diesem Zusammenhang Sorge. Aber das, was dahintersteckt, sollte uns als Gesellschaft insgesamt beunruhigen.