Herne. „Geliebte Mutter“ heißt Çiğdem Akyols erster Roman, er handelt von Familie, Ausgrenzung, Gewalt. Warum ihre Heimatstadt Herne schlecht wegkommt.

Wer Herne für den tollsten Ort der Welt hält, der/die sollte sich an dieser Stelle lieber ausklinken. Çiğdem Akyols Debütroman „Geliebte Mutter - Canım Annem“ spielt überwiegend in dieser Stadt, die „noch hässlicher beim genaueren Hinschauen“ wird. Diese Klage führt Aynur, eine der beiden Hauptfiguren, in dem von der Literaturkritik gelobten Buch.

Der recht starke Herne-Bezug in dem Roman ist kein Zufall. Akyol ist 1978 hier geboren. Nach dem Abitur zog es sie über Köln, einen Studienaufenthalt in Russland, Berlin und Istanbul nach Zürich, wo sie als Redakteurin bei der Wochenzeitung (WOZ) arbeitet. Familiäre Wurzeln hat sie aber nach wie vor in ihrer Geburtsstadt, wie sie jüngst in einem Interview mit dem WDR-Magazin „Westart“ verriet. In dem Beitrag sprach sie auch über ihr ambivalentes Verhältnis zu Herne: Es tue ihr bisweilen weh, zu sehen, wie heruntergekommen es in einigen Ecken sei. Gleichzeitig falle es ihr aber auch „wahnsinnig schwer“, negativ über Herne zu sprechen.

„Geliebte Mutter - Canım Annem“ ist im Steidl Verlag (Göttingen) erschienen.
„Geliebte Mutter - Canım Annem“ ist im Steidl Verlag (Göttingen) erschienen. © Steidl-Verlag

Nach mehreren Sachbüchern - unter anderem über Türkeis Staatschef Erdoğan - ist „Geliebte Mutter“ Akyols erster Roman. Herne ist der Hauptschauplatz der Mutter-Tochter-Beziehung. Dass auch der Vater eine große Rolle spielt, zeichnet sich in dem - bester-Romananfang-des-Jahres-verdächtigen - Einstieg ab: „,Ich will ihn brennen sehen‘, sagte meine Mutter während eines Telefonats, als ich in Berlin im Taxi saß. ,Wenn er im Bett liegt, werde ich einen Kanister Benzin über ihn ausschütten und ein Streichholz auf ihn fallen lassen.‘ Das klang so überzeugend, dass ich eine Panikattacke wegatmen musste. Wie wurde sie zu so einer Frau? Schon früh, dafür gibt es Gründe - und das ist die Geschichte.“

Weitere Buchtipps mit Herner Bezug:

„Geliebte Mutter“ ist ein Roman über eine türkisch-stämmige Familie, erzählt aus den Perspektiven der Mutter Aynur und der Tochter Meryem (nicht nur in der wörtlichen Übersetzung des Namens „die Widerspenstige“). Und doch ist „Canım Annem“ noch viel mehr. Es geht um eine Zwangsehe und ums Patriarchat, um Rassismus, Ausgrenzung, Gewalt und nicht zuletzt um Freiheit. Und während Akyol diese große Themen mit eher leichter Hand verhandelt, setzt sie immer wieder Nadelstiche: gegen das „piefige“ Herne, das ungeliebte Haranni-Gymnasium, den heruntergekommenen Bahnhof oder auch die SPD.

Am ungeliebten Haranni-Gymnasium macht Meryem in „Geliebte Mutter“ ihr Abitur.
Am ungeliebten Haranni-Gymnasium macht Meryem in „Geliebte Mutter“ ihr Abitur. © FUNKE Foto Services | Rainer Raffalski

Das ist packend erzählt, bisweilen politisch und nur zum Ende hin mit einigen zu schnellen Sprüngen. Überzeugte Hernerinnen und Herner, die diesen Bericht trotz der Warnung bis zum Ende gelesen haben, sollen dafür belohnt werden. Es gibt immerhin einen Ort in Herne, in dem sich Aynur nach ihrer Zwangsumsiedlung so richtig wohl fühlt, den sie als Insel in der Einöde empfindet: das Café Wiacker mit seinen Erdbeertörtchen.

„Geliebte Mutter“ dürfte der erste Roman in der Geschichte der Literatur sein, in dem die Erdbeertörtchen des Herner Cafés Wiacker Erwähnung finden.
„Geliebte Mutter“ dürfte der erste Roman in der Geschichte der Literatur sein, in dem die Erdbeertörtchen des Herner Cafés Wiacker Erwähnung finden. © WAZ FotoPool | Ute Gabriel

Çiğdem Akyol: „Geliebte Mutter - Canım Annem“, Steidl-Verlag, gebunden, 236 Seiten, 22 Euro.