Herne. Bis 2026 soll für alle Geflüchteten in Herne die Bezahlkarte gelten, so die Stadt. Was sie verschweigt, warum Kritiker sich bestätigt sehen.
Die Bezahlkarte für Geflüchtete soll in Nordrhein-Westfalen schrittweise eingeführt und spätestens bis zum 1. Januar 2026 von Kommunen umgesetzt werden. Das berichtete Sozialdezernentin Stephanie Jordan in der jüngsten Sitzung des Rates unter Berufung auf die Landesregierung. Sie kündigte an, dass Herne „gemäß dieser Verordnung“ die Bezahlkarte einführen werde. Einen wichtigen Punkt unterschlug die Sozialdemokratin allerdings in ihrer kurzen Mitteilung an die Herner Stadtverordneten.
Auf Anfrage der WAZ Herne bestätigte das unter anderem für Flucht und Integration zuständige NRW-Ministerium von Josefine Paul (Grüne) den von Jordan skizzierten Zeitplan (siehe auch unten). Die Kommunen könnten aber über die sogenannte Opt-Out-Regel entscheiden, bei ihrer bisherigen Form der Leistungserbringung zu bleiben, so eine Ministeriumssprecherin. Diese Klausel erwähnte die Herner Sozialdezernentin im Rat nicht.
Warum diese Option? Die Landesregierung wolle bestehende kommunale Systeme „nicht ohne Not beeinflussen“, heißt es aus Düsseldorf. Der Städtetag NRW lehnt diese Klausel allerdings ab. Sie gefährde den eigentlich gewünschten einheitlichen Anwendungsrahmen, so der Geschäftsführer des Städtetags. Andererseits haben einige Kommunen aber auch schon frühzeitig signalisiert, die Bezahlkarte nicht einführen zu wollen.
Argument der Befürworter: Bezahlkarte soll „Fluchtanreize“ nehmen
Als zentrales Argument für eine Bezahlkarte ist in der politischen Debatte angeführt worden, dass man Menschen damit „Fluchtanreize“ nehmen und verhindern wolle, dass Geflüchtete Geld an Schlepper und/oder an ihre Familien im Heimatland überweisen. Bereits im März ließen Grüne und Linkspartei dieses Argument im Herner Sozialausschuss nicht gelten. Es sei ein Irrglaube, dass hohe Summen in die Herkunftsländer überwiesen würden, betonten die Grünen. Auch die SPD stellte dies im Ausschuss zumindest in Frage. Was Grüne und Linke ebenfalls geltend machten: Ein Bezahlkarten-System wäre aus ihrer Sicht mit Diskriminierungen und Sanktionen für Geflüchtete verbunden.
Justus Lichau (Grüne) erklärte zudem damals, dass wissenschaftlich gar nicht nachgewiesen worden sei, dass in bar ausgezahlte Sozialleistungen ein wesentlicher Fluchtanreiz seien. „An unserer ablehnenden Haltung hat sich nichts geändert“, sagt der Grünen-Stadtverordnete jetzt auf Anfrage. Bestätigt fühlen dürften sich Lichau und andere Kritiker durch eine neue Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW).
Die renommierte Einrichtung berichtete auf Basis repräsentativer Haushaltsbefragungen, dass nur sieben Prozent der Geflüchteten Geld ins Ausland überwiesen. Im Jahr 2012 seien es noch 13 Prozent gewesen, so das DIW. Bei schon länger in Deutschland lebenden Migrantinnen und Migranten sei der Anteil im gleichen Zeitraum von acht auf zwölf Prozent gestiegen. Fazit der Studie: „Die Vorstellung, dass Geflüchtete, die auf Grundsicherung angewiesen sind, in großem Umfang Geld ins Ausland schicken, entbehrt jeder empirischen Grundlage.“
>>> Nur 50 Euro Bargeld pro Monat und Kopf
Vorbehaltlich der parlamentarischen Zustimmung könnte die Bezahlkarte schon ab Januar 2025 schrittweise in Kraft treten, so eine Ministeriumssprecherin. Die Karte diene als Bargeldersatz und ermögliche eine elektronische Bezahlung in Geschäften und bei Dienstleistern. Sie solle zunächst in den Landeseinrichtungen zur Unterbringung von Geflüchteten ausgegeben werden. „Die Einführung zunächst im Landessystem dient auch als Test vor einem anschließenden landesweiten Rollout in den Kommunen“, erklärt das Ministerium.
Bei der Bargeldauszahlung orientiere sich NRW am Beschluss der Ministerpräsidenten, der einen monatlicher Betrag von jeweils 50 Euro vorsehe. „Berechtigte Mehrbedarfe“ - zum Beispiel für Kleinkinder - erhöhten den Betrag nach individueller Entscheidung der vor Ort zuständigen Behörde. „Die Bezahlkarte soll sowohl im stationären Einzelhandel als auch im Onlinehandel bundesweit einsetzbar sein“, heißt es weiter. Ausnahmen bestünden für Geldtransferdienstleistungen ins Ausland, Glücksspiel und sexuelle Dienstleistungen.
Trotz der umstrittenen Optionsregelung erklärt Fluchtministerin Josefine Paul, dass NRW den „zugesagten Weg einer flächendeckenden Einführung“ gehe. Im Haushalt seien zudem zusätzliche Mittel eingestellt, um die kommunale Einführung zu unterstützen. Über die Höhe dieser Mittel macht die Ministerin der Grünen keine Angaben.
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Der NRW-Flüchtlingsrat kritisiert die Pläne des Landes. „Es gibt genug Läden, in denen Kartenzahlungen nicht möglich sind, und auf die Asylsuchende angewiesen sind, weil es da preiswerter ist.“ Das gelte zum Beispiel für Märkte, Trödelmärkte oder Kleiderkammern. Auch für kleine Ausgaben werde Bargeld gebraucht, zum Beispiel, wenn das Kind Taschengeld zur Klassenfahrt benötige. Von Diskriminierungsfreiheit könne deshalb keine Rede sein, so der Flüchtlingsrat.