Herne/Kabul. Nach Jahren kehrt die Hernerin Marwa Amiri in ihre Heimatstadt Kabul zurück. Sie sieht viel Armut und Not, die Bilder lassen sie nicht mehr los.
2018, es ist ein schwüler Septembertag in Kabul. Marwa Amiri ist das erste Mal seit 16 Jahren wieder in ihrem Geburtsland Afghanistan zu Besuch. Seit 2002 lebt die 27-Jährige mit ihrer Familie in Herne, studiert in Dortmund Soziale Arbeit. Die Eindrücke in Kabul sind für sie überwältigend – alles ist so anders als im georderten Deutschland.
Mit ihrer Cousine macht Marwa sich auf den Weg in ein Einkaufszentrum, ein bisschen shoppen. Auf den staubigen Straßen ist es voll, die Menschen drängen aneinander vorbei. „Auf einmal habe ich einen Man laut weinen gehört“, erinnert sich die Hernerin zurück. „Niemand hat ihn beachtet, alle sind weitergegangen.“ Auch ihre Cousine habe sie am Arm weiterziehen wollen, doch Marwa bleibt stehen. „Ich konnte es nicht übers Herz bringen, weiter zu laufen.“
„Diese Dankbarkeit in seinen Augen werde ich nie vergessen“
Dem wimmernden Mann auf dem Boden fehlen beide Beine, auf dem Bauch liegend bittet er um Spenden. „Er hat mir von seiner Lage erzählt, von seiner kranken Frau und seinem Job“, sagt Marwa Amiri. Mit dem Einpacken von Einkäufen halte sich der Mann über Wasser, verdiene nur 700 Afghani am Tag, das sind etwa sechs Euro. „Seine Geschichte hat mir wirklich das Herz gebrochen. Ich musste ihm helfen.“ Umgerechnet rund 50 Euro gibt Marwa dem Mann an diesem Tag mit. Und ihre SIM-Karte, damit er sich bei ihr melden kann.
„Diese Dankbarkeit in seinen Augen, das werde ich nie vergessen“, sagt Marwa. „Es hat mir wehgetan zu sehen, wie viele Menschen in Kabul betteln müssen.“ Vor allem ältere Menschen sehe man häufig auf den Straßen, aber auch Kinder, die Schuhe putzen oder mit Bauchläden ein wenig Geld verdienen. „Statt in die Schule zu gehen, müssen die Kinder ihre Familien unterstützen.“
Dozent ermutigt Marwa zur Gründung des Vereins
Die Bilder gehen Marwa nicht mehr aus dem Kopf. Sie unterhält sich viel mit ihren Verwandten in Afghanistan, aber auch mit ihrer Familie in Deutschland darüber. „Man weiß eigentlich gar nicht, wo man anfangen soll, es gibt so viel Leid“, stellt Marwa Amiri fest. Und dennoch: Zurück in Deutschland spricht sie mit einem ihrer Dozenten, der sie ermutigt, einen Verein zu gründen. Die Idee schlägt Wurzeln in Marwas Kopf, sie tauscht sich viel mit ihrem Bruder Mohammad Hamid Amiri aus, der eine Arztpraxis in Herne führt. „Er hat mir viel geholfen, gerade in der Anfangszeit. Ohne ihn hätte ich den Verein nie gründen können.“
Mit der Hilfe ihres Bruders und von Kommilitonen sammelt Marwa immer mal wieder genug Geld, um Lebensmittelverteilungen in die Wege zu leiten oder auch, um in Einzelfällen dringend notwendige medizinische Versorgungen zu ermöglichen. Da ist etwa der elfjährige Rogha Sahil, der sich nach seiner Arbeit als Aushilfe in einer Kfz-Werkstatt an einem Lagerfeuer mit seinen Kollegen aufwärmen möchte. Die Benzinrückstände an seiner Kleidung fangen Feuer, er erleidet schwere Brandverletzungen an den Beinen. „Als mich die Bilder hier erreicht haben, habe ich sofort einen Spendenaufruf gestartet“, sagt Marwa. „Er wurde operiert, es geht ihm den Umständen entsprechend gut.“
Spenden kommen eins zu eins vor Ort an
Beispiele wie diese, Marwa hat etliche. Geschichten von Witwen, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder satt kriegen sollen und sie Flaschen sammeln lassen. Von Familien, die ausgegrenzt werden, weil eines ihrer Kinder das Down-Syndrom hat und deshalb kein Geld verdienen können. Ihr Cousin Ehsan Amiri, ein Geschäftsmann, ist ihre Kontaktperson in Afghanistan. Er vertritt Amiri e.V. – seit Februar 2021 ein eingetragener Verein – in Kabul. „Die Spenden kommen wirklich eins zu eins vor Ort an“, betont Marwa. „Da fließt nichts in Öffentlichkeitsarbeit oder ähnliches. Plakate und Banner bezahlen wir aus eigener Tasche.“ Der Verein zählt 15 Mitglieder, alle ehrenamtlich. Die meisten noch aus der Familie und dem Freundeskreis, doch Marwa hofft auf neue Mitglieder.
„Je mehr Menschen, helfen, umso besser“, sagt Marwa. Irgendwann, vielleicht, könne sie sich vorstellen, dass der Verein auch außerhalb Afghanistans hilft. „Es gibt auch in Deutschland viele Probleme.“ Aber Priorität habe für sie aktuell Afghanistan. „In den Medien hört man kaum noch etwas davon, aber dort herrscht eine schlimme Hungersnot.“ Die Menschen verkauften ihren letzten Besitz, nur um etwas essen zu können. „Mir geht das alles sehr, sehr nah. Ich muss manchmal echt aufpassen, dass mich das nicht krank macht.“ Die Galerie ihres Smartphones ist voller Bilder, Videos und letztlich auch Schicksale.
Regelmäßige Lebensmittel-Aktionen in Kabul
Jeden Monat organisiert der Verein eine Lebensmittelverteilung in Kabul – vorausgesetzt es kommen genug Spenden an. Reis, Öl, Mehl – die Grundnahrungsmittel sind sehr gefragt. Jedes Mal stehen etliche Menschen an, nur ein Teil von ihnen geht mit vollen Händen nach Hause. Dass die ehrenamtliche Arbeit in Kabul auch gefährlich sein kann, zeigt eine Geschichte aus dem August. Eine bevorstehende Lebensmittel-Aktion wurde mit einem Plakat angekündigt, dass Cousin Ehsan einige Tage später zerrissen vorfindet. Die Taliban drohen ihm. „Das war ein großer Schock für uns alle“, erzählt Marwa. Aber unterkriegen lassen wollen sie und ihre Familie sich dadurch nicht.
„Wir führen hier ein Luxusleben. Was für uns nicht viel ist, kann für andere Menschen das Leben verändern.“ Die vielen Beispiele von Menschen, denen sie bereits helfen konnte, geben ihr den Mut und die Kraft, weiterzumachen: „Wenn wir immer in Angst leben, erreichen wir nichts.“
>>> Amiri e.V. unterstützen
- Wer Amiri e.V. unterstützen möchte, kann Mitglied werden oder auch eine Patenschaft übernehmen. Ein Kontakt ist per Mail an hilfsorganisationamiri@yahoo.com möglich. Eine Webseite hat der Verein aktuell noch nicht.
- Spenden sind jederzeit willkommen. Spendenkonto: DE06420400400440093300, Empfänger: Hilfsorganisation Amiri e.V.