Mytilini. In diesem Jahr wollen WAZ und Kindernothilfe den Flüchtlingskindern auf Lesbos helfen. Wie Abdulah (6) und der kleine Lord dem Lager entkamen.

Maria, 3, aus Syrien, die im libanesischen „Haus der Liebe“ ihre Sprache wiederfand. Ismael, 12, der in Bangladesch zum ersten Mal eine Schule von innen sah. Kaido, 13, das Straßenkind in Äthiopien, das im Schutzhaus das Leben lernte. Und jetzt der kleine Lord. Ernsthaft, und es hat nichts mit Weihnachten zu tun, auch wenn die WAZ-Spendenaktion längst auch ein Weihnachtsklassiker ist: So heißt das Kind, das sie diesmal zum Maskottchen machten – wie wohl jedes Projekt der Kindernothilfe in der Welt eines hat. Lord ist erst ein Jahr alt: ein schwarzer Junge auf der griechischen Insel Lesbos, geboren von Naomi, die aus Nigeria nach Europa kam. Ein Flüchtlingskind.

Eines von Tausenden, wie sie sich im vergangenen Jahrzehnt hier wiederfanden – an diesem südlichen Zipfel von Europa, auf der Insel tief im Osten der Ägäis, eingerahmt vom türkischen Festland. Das ist der Grund, warum die Menschen hierher strebten: So nah liegen die Länder beieinander, dass an der engsten Stelle die Überfahrt nur sieben Seemeilen lang ist. Das „nur“ hat Tausende das Leben gekostet, sie ertranken, als ihre Schlauchboote kenterten; das Mittelmeer ist kein stiller See.

Hoffnung auf ein besseres Leben: Abdulah (6) kam mit seiner Mutter Maryam aus Afghanistan.
Hoffnung auf ein besseres Leben: Abdulah (6) kam mit seiner Mutter Maryam aus Afghanistan. © Kindernothilfe | Knut Bry

„Lesvos Solidarity“, kurz Lesol, bringt wieder Sonne ins Leben

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Naomi hat die Reise überlebt, es war ein langer Weg. Die 31-Jährige kam über Ghana, die Sahelzone, Ägypten und den Irak, mit wem, erzählt sie nicht. Sie sagt auch nicht, wer der Vater ihres Kindes ist. Nur, dass es eine schwierige Schwangerschaft war. Beides aber muss so schlimm gewesen sein, dass Naomi und Lord aufgenommen wurden von „Lesvos Solidarity“, der Partnerorganisation der Kindernothilfe. „Lesol“ kürzt die sich ab, es klingt wie „die Sonne“, und das Team bringt tatsächlich wieder Licht ins Leben der „besonders entsetzlichen Fälle“. Von Frauen vor allem, die misshandelt, missbraucht, vergewaltigt wurden, die auf Lesbos ein weiteres Mal fliehen mussten, diesmal vor Männern. Oder die ihre Kinder verloren haben auf der Fahrt übers Wasser.

Maskottchen des „Überlebensladens“: der kleine Lord.
Maskottchen des „Überlebensladens“: der kleine Lord. © Kindernothilfe | Knut Bry

Eine Krankenschwester hat Naomi geschickt, Lesol hat es tatsächlich geschafft, ihr ein Zimmer zu besorgen. Ein Zimmer irgendwo in den engen Gassen der Insel-Hauptstadt Mytilini, niemand soll wissen, wo es ist, aber es ist ein sicheres Zuhause. Das einem Eigentümer gehört, der Flüchtlinge aufnimmt, der nicht den Mietpreis verdoppelt oder gleich ganz seine Tür versperrt. Ohne Lesol hätte die Nigerianerin das nicht geschafft, sowieso will Griechenland, dass die Geflüchteten zusammenbleiben unter staatlicher Aufsicht: alle im umzäunten Lager Kara Tepe, das entstanden ist, nachdem Moria im September 2020 abbrannte. Das sind ja die Bilder, die die ganze Welt von Lesbos kennt: Lager, Feuer, Menschen im Dreck.

Naomi kann nachts jetzt wieder schlafen

Und Naomi hat nun dieses Zimmer. Sie brachten sie auch zu „Mosaik“, das ist das Zentrum von Lesol in der Innenstadt. Ein altes Haus, wo die Menschen Zuflucht finden und praktische Hilfe: Sie lernen hier Englisch und Griechisch, verschiedenes Handwerk – und wie man zurechtkommt als Asylsuchender mit der griechischen Bürokratie. Bei der Kindernothilfe nennen sie das Haus auch den „Überlebensladen“. Naomi hat hier gelernt, dass sie eine Künstlerin ist: Eine riesige Männerfigur hat sie gemacht, gewebt aus Fetzen von Strandgut. Davon gibt es an der Küste um Mytilini genug, sie verarbeiten auch Streifen von Rettungswesten und Gummireste von Booten.

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An ihrer Figur hat sie sich abgearbeitet, sie sagt, der Stress ist weg und dass sie nachts endlich wieder schlafen kann. Und immer, wenn sie webt und dabei kämpft gegen ihre Angst, ist der kleine Lord dabei. Er spielt mit den Fäden, er wird bespaßt von den anderen Frauen. Naomi sagt, ihr Kind soll ein gutes Leben haben: „Es hat aber keinen Vater, also muss ich dafür sorgen.“ Indem Lesol, die Kindernothilfe und die WAZ-Leser den Müttern helfen, helfen sie auch den Kindern.

Kinder können nicht in die Schule, weil sie das Lager nicht verlassen dürfen

Wie Abdulah, der ist auch oft hier, aber er kommt erst nach der Schule. Der Schule! Das ist nicht normal für die Flüchtlingskinder auf Lesbos: Die meisten müssen ja im Lager bleiben, man darf es nicht verlassen, und drinnen gibt es keine Schule. Seine Mutter Maryam, aber hat auch ein Zimmerchen gefunden. Und ihr Sechsjähriger hat Griechisch gelernt, auch deshalb kann er nun zur Schule. Maryam lernt das jetzt auch: „Wer hier nur Farsi und Englisch kann, wird diskriminiert.“ Farsi ist ihre Muttersprache, die 30-Jährige kommt aus Afghanistan, wo sie davon träumte, Wirtschaft zu studieren. Sie kann gut rechnen, wie ihr Sohn. Vielleicht schafft er es, das wünscht sich Maryam, die selbst auch von einem Schulabschluss träumt. Abdulah jedenfalls kann schon mal Kunst: Im Mosaik-Zentrum hat er einen Omnibus gebastelt, er selbst sitzt darin ganz vorn.

Wohin die Reise aber geht, kann keiner wissen. Vielleicht endet sie auch hier. Maryam jedenfalls hofft, dass ihre Flucht vorbei ist. Dass die Menschen auf Lesbos sie grüßen und nicht mehr über sie hinwegsehen, als gäbe es sie nicht. Dass der Bus nicht vorbeifährt an Frauen mit Kopftüchern oder Kindern mit schwarzer Haut. „Ich wünsche mir, dass ich eines Tages ein respektierter Teil der Gemeinschaft bin.“

Der Weg nach Mytilini ist kurz, aber gefährlich.
Der Weg nach Mytilini ist kurz, aber gefährlich. © funkegrafik nrw | Jill Starke, Marc Büttner

>>DAS SPENDENKONTO

Hier können Sie den Flüchtlingskindern und ihren Familien auf Lesbos helfen: Das Spendenkonto für die Weihnachtsspenden-Aktion von WAZ und Kindernothilfe hat dieselbe Nummer wie in den vergangenen Jahren.

Empfänger: Kindernothilfe
Stichwort: Lesbos
IBAN: DE4335 0601 9000 0031 0310
BIC : GENODED1DKD (Bank für Kirche und Diakonie)

>>WARUM WIR NICHT VOR ORT SIND

Wegen der wieder anziehenden Corona-Krise hat die Redaktion kurzfristig entschieden, die Flüchtlingsfamilien nicht, wie geplant, vor Ort zu besuchen. Auch in Griechenland steigen die Ansteckungszahlen derzeit auf Höhen wie seit einem halben Jahr nicht mehr. Gerade in den Lagern sind die Hygiene-Bedingungen oft desolat, viele sind nicht geimpft.

Wir haben uns deshalb entschieden – wie schon für die WAZ-Weihnachtsspendenaktion im vergangenen Jahr – die Kinder und ihre Eltern virtuell zu treffen: In vielen Videokonferenzen und Telefonaten lernen wir die Menschen auf Lesbos kennen und lassen uns ihre Geschichten erzählen. Vor Ort schaut derweil Jürgen Schübelin genau hin: Der gelernte Sozialwissenschaftler (65) arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten für die Kindernothilfe, kennt sich vor allem in Migrationsfragen aus.