Duisburg/Kabul. „Wir haben keine Chance“: Eine Duisburger Familie hofft in Afghanistan auf ihre Rettung. Die Mutter ist verletzt, ein Sohn sitzt im Rollstuhl.

„Wir können nicht zum Flughafen Kabul. Wir haben keine Chance“, sagt Sahar Ahmadi*. Die 18-Jährige, ihre zwei Brüder (23 und 21 Jahre alt) und ihre Mutter leben eigentlich in Duisburg. Die Vier sind deutsche Staatsbürger, die Kinder in Duisburg geboren. Anfang der Sommerferien ist die Familie auf Verwandtenbesuch nach Kandahar in Afghanistan geflogen – und wurde vom Vormarsch der radikal-islamischen Taliban überrascht.

„Ich habe die Sorge, dass wir keinen Ausweg finden“, sagt die junge Frau verzweifelt, die sich derzeit mit ihren Geschwistern und der Mutter bei Bekannten in der Nähe des Flughafens Kabul aufhält. Die große Schwierigkeit im gefährlichen Chaos vor den Eingängen des Flughafens: Ihr 23 Jahre alter Bruder ist schwerstbehindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. „Er hat eine Muskelerkrankung“, schildert sie. Nach wenigen Schritten lassen die Kräfte nach.

Drei vergebliche Versuche, den Flughafen Kabul zu erreichen

Schon drei Mal versuchte die Familie vergeblich, den militärischen Teil des Flughafens Kabul zu erreichen. Die Lage sei chaotisch. Tausende, erzählt sie, geben die Hoffnung auf einen Evakuierungsflug nicht auf. „Überall sind Menschen. Es gibt viele Staus. Es ist schwierig, durch das Gedränge zu kommen“, schildert die Duisburgerin am Telefon. Die Eindrücke der vergangenen Tage haben hörbar Spuren hinterlassen. „Es gibt keinen Tag ohne Schüsse.“

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Bei einem der erfolglosen Versuche, das rettende Nordgate am Flughafen zu erreichen, wurde ihre Mutter am Kopf verletzt. Sie sei von einem Splitter einer Tränengasgranate getroffen worden. Sie habe stark geblutet, ein Soldat habe daraufhin einen Verband gewickelt. „Wenn sie aufsteht, wird ihr schwindelig. Sie war auch bewusstlos“, berichtet die Tochter. Eine laut Einschätzung der Ärzte dringend notwendige stationäre Behandlung im Krankenhaus soll sie abgelehnt haben – denn sie wolle ihre drei Kinder in dieser erdrückenden Situation nicht zurücklassen.

Familie aus Duisburg steht auf der Krisenvorsorgeliste

Seit dem 16. August steht die Familie auf der Krisenvorsorgeliste (Elefand) des Auswärtigen Amtes und ist somit für eine Evakuierung gemeldet. Regelmäßig erhielten die Duisburger per E-Mail Informationen der Botschaft in Kabul, zuletzt am Dienstag. Die Behörden weisen darauf hin, dass die Lage am Flughafen Kabul weiterhin äußert unübersichtlich sei. „Es kommt noch immer sehr häufig zu gefährlichen Situationen und bewaffneten Auseinandersetzungen an den Gates“, teilt die Deutsche Botschaft Kabul mit.

Aufgrund der Lage und in Sorge um die Sicherheit der deutschen Staatsbürger wird vonseiten der Botschaft „dringend von einer individuellen Fahrt zum Flughafen abgeraten“. Deutschland plane weiterhin Evakuierungsflüge mit der Bundeswehr und „zudem mit anderen befreundeten Staaten Flüge von Kabul ins Ausland“, so die Auskunft der Botschaft am Dienstag.

Das am Sonntag, 22. August, aufgenommene Foto zeigt Menschen, die am Flughafen Kabul in der Hoffnung darauf ausharren, noch ausgeflogen zu werden. Die deutsch-afghanische Familie aus Duisburg kann das Gedränge und die Barrieren auch wegen der Behinderung eines Sohnes nicht überwinden.
Das am Sonntag, 22. August, aufgenommene Foto zeigt Menschen, die am Flughafen Kabul in der Hoffnung darauf ausharren, noch ausgeflogen zu werden. Die deutsch-afghanische Familie aus Duisburg kann das Gedränge und die Barrieren auch wegen der Behinderung eines Sohnes nicht überwinden. © dpa | Rahmatullah Alizadah

Deutsche Botschaft Kabul: „Schritte müssen kurzfristig geplant und umgesetzt werden“

Weitere konkrete Maßnahmen zur Ermöglichung der Ausreise würden fortwährend geprüft, heißt es in der Information an Betroffene. „Da die Lage in Kabul weiterhin sehr dynamisch ist, müssen diese Schritte sehr kurzfristig geplant und umgesetzt werden.“ Doch für die gehandicapte Duisburger Familie drängt die Zeit, weil alle ausländischen Truppen das Land bis kommenden Dienstag (31. August) eigentlich verlassen haben sollen.

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Die Bundesregierung plant ein Ende ihrer militärischen Rettungsflüge offenbar sogar noch vor dem Wochenende. Der letzte Flug der Luftbrücke für deutsche Staatsbürger und gefährdete Ortskräfte könnte nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) demnach bereits am Freitag organisiert werden. Die Regierung reagiert damit auf das Festhalten der USA am Abzugsdatum 31. August.

Bis auf die Warnhinweise des Auswärtigen Amtes per E-Mail fehle der Familie konkrete Hilfe. Sie wartet auf ein Zeichen, auf den ersehnten Anruf, doch das Telefon bleibt stumm. „Niemand hilft“, sagt die 18-Jährige. „Kann uns niemand abholen? Anders kommen wir nicht zum Flughafen.“

* Sahar Ahmadi heißt eigentlich anders. Sicherheitsgründe veranlassen die Redaktion, ihren Namen und die Namen der Angehörigen nicht zu nennen.

>> SOLDATEN HABEN FAMILIE AUS MÜNCHEN ZUM FLUGHAFEN KABUL ESKORTIERT

  • Unterstützung erhält die Familie von einer Freundin aus Duisburg. „Sie haben das Gefühl, im Stich gelassen zu werden“, schildert die Freundin, die sich in ihrer Verzweiflung an die Redaktion und auch an die Stadt Duisburg gewandt hat.
  • Eine Anfrage der Redaktion an das Auswärtige Amt, wie deutsche Staatsangehörige bis zum 31. August aus Afghanistan evakuiert werden sollen, die aufgrund physischer Einschränkungen nicht die Möglichkeit haben, zum Flughafen zu gelangen, blieb unbeantwortet.
  • Aus dem Auswärtigen Amt war zu hören, dass die Bundesregierung das Ziel verfolge, bei der Evakuierung noch möglichst viele Personen aus Afghanistan herauszuholen. Im Fokus stehen dabei unter anderem deutsche Staatsangehörige. Der Fall der Duisburger Familie sei dem Ministerium bekannt. Derzeit werde von einer niedrigen dreistelligen Zahl von deutschen Staatsangehörigen ausgegangen, die sich noch in Afghanistan aufhalten.
  • Laut dpa-Informationen von Mittwochmorgen hat die Bundeswehr insgesamt inzwischen auf gut 30 Flügen mehr als 4650 Bundesbürger, Afghanen und Bürger anderer Staaten aus Kabul evakuiert. Darunter seien Menschen aus mehr als 40 Ländern, teilte das Verteidigungsministerium mit.
  • Vom Ministerium bestätigt sind auch Berichte, wonach Soldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) eine deutsche Familie aus Kabul zum Flughafen brachten. Eine 19-jährige Münchnerin, ihr kleiner Bruder und ihre Mutter hatten zuvor mehrfach versucht, selbst zum Flughafen zu gelangen, wurden aber von den Taliban gestoppt. Nach der Eskorte zum Flughafen sei die Familie am Wochenende ausgeflogen worden.