Gladbeck. Die Zahl der Kirchenaustritte in Gladbeck steigt drastisch – das liegt vor allem an den Missbrauchsskandalen. Propst Müller: „Ich schäme mich.“

Die Zahl der Kirchenaustritte steigt auch in Gladbeck. 434 Menschen kehrten im vergangenen Jahr den christlichen Kirchen den Rücken. Ein Jahr zuvor waren es „nur“ 294. Die Zahlen nannte Amtsgerichtsdirektor Bernd Wedig auf WAZ-Anfrage.

Die Konfession wird im Amtsgericht nicht gesondert ausgewiesen. Allerdings: Die Missbrauchsskandale, die seit geraumer Zeit vor allem die katholische Kirche erschüttern, spielen offenbar eine große Rolle. Bernd Wedig: „Die zuständigen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen hören häufig, dass Menschen enttäuscht bis entsetzt sind.“ Drei bis sechs Kirchenaustritte werden im Amtsgericht durchschnittlich pro Tag beurkundet. Bis Mitte Februar sind alle Termin vergeben. „Die Tendenz geht eindeutig nach oben“ sagt der Direktor. „Im Januar 2021 gab es acht Fälle, in diesem Jahr bis zum 27. Januar bereits 44. Die Anrufe häufen sich. Um das Team davon zu entlasten, sind wir gerade dabei, auf Online-Terminvergabe umzustellen.“

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Propst: Seit 2009 verlor die katholische Kirche jährlich im Schnitt 150 Mitglieder

24.549 Mitglieder zählte die katholische Kirche in Gladbeck Ende 2021 – 641 weniger als ein Jahr zuvor. Die Zahl der Kirchenaustritte ist allerdings deutlich niedriger, denn es gab 320 Beisetzungen und 170 Taufen. Als Propst André Müller 2009 seinen Dienst in Gladbeck antrat, lebten noch rund 31.000 Katholiken in der Stadt. „Wir haben seitdem im Schnitt 150 Kirchenmitglieder pro Jahr verloren“, sagt er – und befürchtet, dass die Zahlen steigen werden: „Bisher haben Menschen die Kirche verlassen, weil sie sich entfremdet hatten oder um die Kirchensteuer zu sparen. In der letzten Zeit, und zunehmend nach der Veröffentlichung des Gutachtens aus dem Bistum München und Freising zu sexualisierter Gewalt in der Kirche, kommen Verzweifelte dazu. Das macht mir riesige Sorgen.“

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Für das, was in seiner Kirche vorgefallen ist und für den Umgang damit findet Propst Müller deutliche Worte. Er spricht von Skandal, Vertuschung und Lügen.
Für das, was in seiner Kirche vorgefallen ist und für den Umgang damit findet Propst Müller deutliche Worte. Er spricht von Skandal, Vertuschung und Lügen. © FUNKE Foto Services | Heinrich Jung

Für das, was in seiner Kirche vorgefallen ist und für den Umgang damit findet Propst Müller deutliche Worte, spricht von Skandal, Vertuschung, Lügen, von Verantwortlichen, denen die eigene Karriere und die Institution Kirche wichtiger seien als die Opfer. Man spürt bei jedem Satz, wie sehr ihn dieses Thema umtreibt: „Ich bin fassungslos, und ich schäme mich, es tut richtig weh.“ Müller hofft, dass innerhalb der Kirche „sehr schnell richtige Entscheidungen getroffen werden, damit wieder Vertrauen aufgebaut werden kann. Zurzeit herrschen Verunsicherung und großes Misstrauen. Das spüre ich sogar intern. Wir brauchen dringend substanzielle und strukturelle Veränderungen, und die Verantwortlichen müssen sich endlich ihrer Verantwortung auch stellen.“

Enttäuschung und Ärger

Propst André Müller ist nicht nur entsetzt und maßlos enttäuscht über die Vorgänge in „seiner“ Kirche. Auch Ärger schwingt in seinen Worten mit. „Wir machen vor Ort unsere Arbeit, sind in der Seelsorge da. Wir tun unser Möglichstes, um sexualisierte Gewalt zu verhindern, verlangen von allen Mitarbeitern ein Führungszeugnis, schulen sie, haben Präventionsprogramme. Aber wir müssen für das, was Andere angerichtet haben, den Kopf hinhalten.“

„Eine blühende Volkskirche wird die katholische Kirche nicht wieder“, so André Müller

„Ist die Kirche noch zu retten?“ Über diese Frage diskutierte am vergangenen Sonntag Anne Will mit ihren Gästen in der ARD. Propst André Müller gehörte nicht zur Talkrunde, beantwortet die Frage im Gespräch mit der WAZ. Er befürchtet, „dass wir eine lange Durststrecke vor uns haben“. In der spätmodernen Zeit müssten alle einst mächtigen Institutionen, beispielsweise Parteien und Gewerkschaften, massive Mitgliederverluste hinnehmen. „Das tröstet mich als Kirchenmann aber nicht.“

Eine blühende Volkskirche werde die katholische Kirche nicht wieder, ist sich Propst Müller sicher, aber er hat auch Hoffnung: „Es wird immer Menschen – wenn auch weniger – geben, die sich in der Kirche wiederfinden und zu Hause fühlen.“