Gladbeck. Die jüdische Gemeinde lädt coronabedingt nur zum digitalen Holocaust-Gedenken ein. In der Thora hat die Gesundheit eine hohe Bedeutung.

Es ist eine sehr schwere Abwägung für die Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Gelsenkirchen, zu der auch die Gladbecker mosaischen Glaubens zählen. Judith Neuwald-Tasbach und den Rabbiner der Gemeinde, Chaim Kornblum, haben entschieden, den Holocaust-Gedenktag nur digital zu begehen. Das gemeinsame Gebet und auch das Wachhalten der Erinnerung an die Gräueltaten gegenüber Juden in der Nazizeit zählen zu den wichtigsten Dingen in beider Leben. Doch die Wahrung der Gesundheit aller habe in den fünf Büchern Moses, der Thora, eine besondere Bedeutung. Und so wird in diesem Jahr der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und der Millionen Opfer des Holocaust nur digital gedacht.

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Statt großer Feier mit Musik, gemeinsamem Gebet, Singen und verschiedensten Gästen aus der Stadt und Vertretern verschiedener Religionen wird der Rabbi das anrührende Trauergebet El Male Rachamim daher nur über die Homepage der Gemeinde und der Stadt vorbeten, mit Übersetzung. Oberbürgermeisterin Karin Welge stellt ihre Rede zum Gedenken und Mahnen ebenfalls als Video auf der Seite der Gemeinde sowie der Stadt zur Verfügung.

Verbale Missachtung vergiftet die ganze Gesellschaft

"Schön wäre, wenn auch die Schulen trotz dieser auch für sie so schweren Zeit das Thema jetzt auf die Tagesordnung nähmen, Projekte, Beiträge darüber planten", wünscht sich Neuwald-Tasbach. Die Erinnerung daran, was aus Vorurteilen und verbaler Missachtung entstehen kann, wie nachhaltig sich Hass verbreitet und die ganze Gesellschaft vergiftet, müsse gerade in dieser Zeit aufrecht erhalten werden, mahnt die 61-Jährige.

"Aus Worten werden Taten, das haben wir gerade erst in den USA gesehen. In dem Land, dem wir so viel zu verdanken haben. Das hätte ich mir nie vorstellen können, dass dort so etwas geschehen könnte wie der Angriff auf die Demokratie. Um so wichtiger ist es, dass hier bei uns alle mithelfen, dem Hass entgegenzuarbeiten", betont Neuwald-Tasbach.

Unkenntnis und Distanz fördern Vorurteile

Ein wichtiger Baustein dafür seien die vielen Besucher, die die Neue Synagoge normalerweise empfängt, die Schulprojekte, die gemeinsamen Feste, die Gedenk- und Informationsveranstaltungen und die Führungen. All das kann derzeit nicht stattfinden, die Distanz, die Unkenntnis und damit die Vorurteile wachsen.

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"Je schlechter es den Menschen geht, gerade in Pandemiezeiten, desto eher suchen sie einen Sündenbock. Und das Unbekannte schürt Verschwörungstheorien, immer", weiß sie aus bitterer Erfahrung. Weshalb die Gemeinde stets am gegenseitigen Kennenlernen arbeite, auf Gemeinsamkeit in der ganzen Gesellschaft hinarbeite. Und die Erinnerung wachhalte, "denn Auschwitz ist für die Opfer nie vorbei. Und es leben noch immer Täter und Opfer." Die Zahl der lebenden Zeitzeugen jedoch wird immer kleiner; die Überzeugungskraft der "Zweitzeugen", also der Nachkommen, ist für Unbeteiligte jedoch oft weniger überzeugend, weniger intensiv.

Am 27. Januar 1942 wurden 350 Juden deportiert

Der 27. Januar ist für die jüdische Gemeinde ein doppelter Gedenktag. Denn an diesem Tag waren 350 Juden 1942 aus Gelsenkirchen ins Ghetto nach Riga deportiert worden. Für Judith Neuwald-Tasbach sind diese Tage besonders schwer. Ihr Vater Kurt Neuwald starb vor 20 Jahren, am 6. Februar. Kurt Neuwald war es, der trotz allem, was Gelsenkirchener Nationalsozialisten ihm und seiner Familie angetan hatten, in seine alte Heimatstadt zurückkehrte und hier eine neue jüdische Gemeinde aufbaute. "Unter den Eltern oder Großeltern meiner Kindergartenfreunde waren mit Sicherheit auch Täter, Menschen, die meinen Vater bedrängt, vielleicht auch beraubt oder einfach zugesehen hatten. Doch das hat er nie gezeigt, alle waren bei uns immer willkommen. Auch davor habe ich sehr große Hochachtung."