Gladbeck. Der Historiker Ludger Tewes aus Gladbeck ordnet das aktuelle Geschehen ein. Der Fachmann zieht Parallelen zum Mittelalter.
Die Corona-Pandemie bestimmt derzeit wohl unser aller Leben. Inzidenz und Reproduktionswert - Begriffe, die in unserer Gesellschaft nun allgegenwärtig sind. Eingeschränkter Bewegungsradius, Maskenpflicht, Ausgangssperren erinnern an Kriegszeiten, denen in Geschichtsbüchern Kapitel gewidmet sind. Welche Bedeutung wird unsere Nachwelt einmal der Ausbreitung des Coronavirus' beimessen? Der Historiker Ludger Tewes aus Gladbeck ordnet das aktuelle Geschehen ein.
Wird Corona als eine kleine Episode, kaum mehr als ein Wimpernschlag im Laufe der Jahrhunderte, in die Lehrbücher eingehen? Oder als Ereignis, das gravierende Folgen für die Menschheit hat? Tewes: "Jede Form von Krankheit wirkt auf Mentalität und Geisteshaltung des Menschen in seiner Zeit, der Gefahren (wieder-)erkennt, sich aber selten selbst durch Todesgefahr bedroht sieht." Viele Bakterien oder Viren sind historisch gesehen schon einmal aufgetreten. Man denke nur an Seuchen.
Gladbeck: Anno 1635 raffte die Pest geschätzte etwa 15 Prozent der Einwohnerschaft dahin
"Die Pandemie Covid-19 hat den Globus ohne Schranken sehr zügig durch Übertragung schneller Verkehrsmittel ergriffen", sagt Tewes. Im Mittelalter sei die hochansteckende Pest langsamer, quasi auf Pferderücken, durch die damals bekannte Welt gezogen - vom Mittelmeer bis nach Westdeutschland und in das Vest Recklinghausen (1350). Die generellen Auswirkungen auf die Bevölkerung seien ähnlich denen der Corona-Pandemie gewesen, "doch das Sterben war vielfältiger als bei Covid-19". Der Historiker: "Der Tod eines Menschen ging über Tage, nicht über Wochen. Wer von der Pest in Gladbeck einmal infiziert war, hatte eine deutlich geringere Überlebenschance als bei Covid."
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Um 1403 fürchteten die Menschen in Dorsten die Pest dermaßen, dass sie in ihren Stadtstatuten festlegten: Wer jemandem Pest oder Aussatz verbal an den Hals wünschte, musste zur Strafe 100 Ziegelsteine bezahlen. Man war unsicher ob der hygienisch unklaren Übertragungswege und fürchtete, schon allein der Fluch schade. Das zeigte, wie tief der Aberglaube in den Menschen steckte. Tewes schlägt die Brücke zur Gegenwart: "Die Leugner von Krankheiten, von Covid, sind nicht erst 2020 aufgetreten. Im Mittelalter waren es die Wunderheiler."
Als in Gladbeck der Friedhof zu klein wurde, errichtete die Gemeinde ein Beinhaus
1535 stand auf der noch heute im Kirchturm aufgehängten Gladbecker Marienglocke zu lesen: „.. den Teufel setze in Bedrängnis ich..“ (Tewes, Mittelalter im Ruhrgebiet). "Das heißt, alles Böse kam vom Teufel, auch jedwede tödliche Erkrankung von Mensch und Vieh", erläutert der Fachmann. Hunderte von Gladbeckern starben um 1635 an der Pest, geschätzte etwa 15 Prozent der Einwohner. "Sie war tödlicher als Covid." Tewes weiß zu berichten, dass in den schweren Zeiten des Mittelalters, als die Toten manchmal zuhauf lagen, die Gemeinde für den zu kleinen Friedhof in Gladbeck das Beinhaus am Chorumgang von St. Lamberti errichtete.
Johannes Vöing aus Gladbeck, einer von 2505 Einwohnern, stirbt am 21. Oktober 1815 mit 42 Jahren an Tuberkulose. Tewes: "Wer weiß, welche Bakterien noch darin verwickelt waren? Er war nicht der Einzige. Heinrich Vöing, geboren am 25. März 1814, stirbt mit noch nicht ganz zwei Jahren am 5. März 1816. Keine Todesursache, welcher Hintergrund und welche Bakterien auch hier mitgewirkt haben mögen. Johannes Heinrich Vöing stirbt 18 Monate nach seiner Geburt 1839 an „Blattern“, wie es heißt. Gemeint sind die Pocken."
Ludger Tewes: "Covid ist mit Blick auf die vergangenen 600 Jahre in Gladbeck keine neue gesellschaftliche Zumutung"
Die Pest kehrte in den Jahrhunderten immer wieder zurück, bis die Hygiene sie verdrängte. Das soll auch bei Covid-19 so sein. Die Impfung ergänzt solche Maßnahmen. Aber: "Auch Corona wird wohl nicht endgültig verschwinden."
Die generelle Belastung des Menschen durch bakterielle und viruelle Elemente bilde eine Normalie für jedes Biotop und jede Geschichte. Der Historiker kann viele Beispiele anführen: Aids, Erdbeben, Sturmfluten, schlechte Ernten, Wassermangel, Erderwärmung. Auf lokaler Ebene wäre der Hungerwinter 1916/17 von Gladbeck im Ersten Weltkrieg zu nennen.
"Soziale Herausforderungen haben die Menschen immer schon gekannt"
Wie wird Corona in die Geschichtsbücher eingehen? Tewes: "Covid ist eine Pandemie, mit Blick auf die vergangenen 600 Jahre in Gladbeck aber keine neue gesellschaftliche Zumutung, denn solche zugleich auch sozialen Herausforderungen der Gesellschaft haben die Gladbecker und die Deutschen in wechselnden Formen immer schon gekannt."
Ludger Tewes ist Experte in Fragen zu Hygiene, Krankheit und Verwundung
Historiker Ludger Tewes, geboren im Jahr 1955 in Gladbeck, ist Dozent an der Universität Potsdam. Er ist in mittelalterlicher Geschichte promoviert und in neuerer Geschichte habilitiert. Der Experte in Fragen zu Hygiene, Krankheit und Verwundung überblickt weitgespannte historische Verhältnisse. Sein Standardwerk: "Rotkreuzschwestern im Sanitätsdienst der Wehrmacht".