Gladbeck. Gladbecker Thorsten Rottmann ist 3000 Kilometer zur polnischen Grenze gefahren. Er hat seine Familie aus der Ukraine vor dem Krieg gerettet.
Als der Gladbecker Thorsten Rottmann am vergangenen Freitagabend mit der WAZ Gladbeck telefonierte, hatte er noch keine Ahnung, ob das, was er sich in den Kopf gesetzt hatte, auch wirklich funktionieren würde. Der Plan: Seine Schwägerin Lesia Teliuk und ihre zwei Kinder Taras (9) und Ivanka (10) von der polnisch-ukrainischen Grenze abholen, damit sie vor dem Ukraine-Krieg in Sicherheit sind.
Drei schlaflose Nächte und 3000 Kilometer Autofahrt später sitzt die Familie am Dienstagmittag vereint, gesund und noch ziemlich erschöpft in der Gladbecker WAZ-Lokalredaktion. Sie berichten von ihrer nervenaufreibenden Flucht-Aktion aus der Ukraine , die sie ohne den Familienvater und die Großeltern antreten mussten.
Ukraine-Krieg: Mutter und Kinder flüchten nach Gladbeck
Ukraine: Ausreiseverbot für Männer über 18 Jahren
Wegen der Angriffe Russlands versuchen viele Menschen aus der Ukraine zu fliehen. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj ordnete an, dass alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht mehr ausreisen dürfen. Sie müssen bleiben, um für ihr Land zu kämpfen. Die Regelung soll insgesamt für 90 Tage gelten und betrifft auch Taras und Ivankas Vater.
Die Teliuks kommen aus einem kleinen Dorf namens Lytschkiwzi, das rund 80 Kilometer von der Stadt Ternopil entfernt liegt. „Bis Samstagmorgen hatten sie noch gehofft, dass sich die Lage schnell wieder beruhigen würde“, berichtet Rottmann. „Als dann die ersten Schutzhelikopter der ukrainischen Armee auch in Ternopil eintrafen und immer wieder die Luftsirene ertönte, war klar, dass die Russen nicht mehr weit weg sein konnten.“ Mit dem Wissen, dass sie den Familienvater und die Großeltern zurücklassen müssen, entschied sich Lesia dazu mit ihren Kindern aus der Ukraine zu flüchten. „Fahrt! Hauptsache, ihr seid in Sicherheit“, habe der Vater zu ihnen gesagt. „Da wussten sie nur noch nicht wie“, so Rottmann.
Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur polnischen Grenze zu gelangen, erschien der 38-jährigen Mutter utopisch. „Die Menschen springen förmlich auf die bereits völlig überfüllten Busse auf. Egal, ob mit oder ohne Ticket“, erklärt Rottmann. So kratzte Lesia am Sonntagmorgen all ihre Bargeldreserven zusammen, um mit ihren Kindern und einer Freundin, die ebenfalls ihr Kind mitnahm, 380 Kilometer mit dem Taxi in Richtung polnische Grenze zu fahren. 30 Kilometer vor der Grenze wurden sie abgesetzt und mussten den Rest der Strecke bei Minusgraden und Hagelsturm zu Fuß hinter sich bringen.
Gladbecker war fast drei Tage zur Rettung der Familie aus der Ukraine unterwegs
Derweil in Gladbeck: Thorsten Rottmann hat am Samstagvormittag sein Auto kurzerhand provisorisch umgebaut, damit er immerhin fünf Leute darin mitnehmen kann. Gegen 19.30 Uhr brach er nach Polen auf. Nach einer anstrengenden Nacht kam er am nächsten Morgen an der polnisch-ukrainischen Grenze an, wo er noch mehrere Stunden auf seine Familienangehörigen warten musste. Dort traf Rottmann auf Tausende weitere Helfer, die gekommen waren, um Kleidung, Essen und warme Getränke zu bringen. „Die Welle der Hilfsbereitschaft vor Ort ist unglaublich“, so der Gladbecker.
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Gegen 21 Uhr fand am Sonntag dann endlich das Zusammentreffen an der Grenze statt. „Das ging alles superschnell“, erinnert sich Rottmann. „Wir mussten sofort weiterfahren und noch 330 Kilometer durch Polen fahren, um die Freundin meiner Schwägerin zu ihrem Bruder zu bringen.“ Dort haben sie alle gemeinsam ein paar Stunden geschlafen, bis es am nächsten Morgen gegen sieben Uhr noch mal gut 1000 Kilometer nach Gladbeck ging. Endlich in Sicherheit.
Wie geht es jetzt weiter?
„Die Kinder verstehen es nicht“, meint Rottmann. „Für sie ist es im Moment eher wie ein Urlaub.“ Bloß die Frage, warum ihre Mutter andauernd weint und nicht viel spricht, bleibt für Taras und Ivanka ungeklärt. „Lesia fühlt sich hilflos und ist verzweifelt. Sie macht sich große Sorge um ihre Eltern in der Ukraine“, erklärt der Gladbecker. Zeitgleich sei sie von der ganzen Hilfsbereitschaft völlig überwältigt und überfordert.
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Ob und wann es wieder nach Hause geht, oder die zurückgelassenen Angehörigen wiedergesehen werden können, wissen sie nicht. Auch wie es jetzt in Deutschland weitergeht, kann noch niemand genau sagen. „Ich fühle mich ausgelaugt und muss das Wochenende erstmal verarbeiten“, sagt Thorsten Rottmann. „Ich würde mich gerne darüber freuen, dass wir es geschafft haben. Aber ich habe bestimmt 10.000 hilflose Menschen an der Grenze gesehen und konnte gerade mal fünf von ihnen retten.“