Gelsenkirchen. Klartext-Talk in Gelsenkirchen: Ex-Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) vermisst die wirklich großen Themen im Bundestagswahlkampf.
Es gehört schon etwas Mut dazu, Sigmar Gabriel in Wahlkampfzeiten einzuladen. Schließlich kommt weder die SPD noch irgendeine andere Partei besonders gut weg, wenn der ehemalige Parteichef der Sozialdemokraten (2009 bis 20017) ans Podium tritt. Und die bestimmenden Themen des derzeitigen Wahlkampfes – von Abschiebungen bis Steuerentlastungen – wirken plötzlich so klein, so unbedeutend.
Sigmar Gabriel war Umweltminister, er war Wirtschafts- und Außenminister. Obwohl er die Außenpolitik nur am kürzesten verantwortete, profiliert er sich heutzutage vor allem durch seine außenpolitische Expertise. Als Vorsitzender der Atlantik-Brücke gehört Gabriel weiterhin fest Top-Arsenal der deutschen Diplomatie – und diagnostiziert: „Wir sind Zeitzeugen eines tektonischen Wandels.“
Gabriel: Die Europäer realisieren kaum, wie sich die Welt verändert
Um deutlich zu machen, was er meint, nimmt Gabriel den vollen Saal im Buerschen Michaelshaus gedanklich mit an einen Ort, „der fast so schön ist wie Gelsenkirchen-Buer“: Venedig. Lange Zeit lang wurde von der weltbekannten Stadt ein Großteil des Handels zwischen Westeuropa und dem östlichen Mittelmeer abgewickelt. Dann aber verlagerten sich die Handelswege vom Mittelmeer Schritt für Schritt in den Atlantik. „Er wurde dann das neue Zentrum, die neue Handelsroute, für 600 Jahre.“
Ob die Venezianer damals ihr Schicksal ahnten? „Wohl kaum!“ Ob die Europäer heute realisieren, dass sie in einer ähnlichen historischen Zäsur stecken? Gabriels Antwort darauf ist dieselbe.

Der 65-Jährige stellt fest: „Der Atlantik war so etwas wie die Gravitationsachse der Welt, aber diese Achse verschiebt sich jetzt noch einmal, nämlich zum Indopazifik“ – wo Zweidrittel der Weltbevölkerung leben, wo Zweidrittel der Waren hergestellt werden. „Und die Ersten, die verstanden haben, dass da etwas passiert, das waren die Amerikaner.“
Amerika hinterlässt eine Lücke, die autoritäre Staaten füllen
US-Präsident Donald Trump treibe die Anpassung an diese neue Weltordnung nun auf die Höhe, indem er sinngemäß sagt: „Ich brauche keine Alliierten mehr, ich kümmere mich um mich und mache mit den großen Jungs Deals.“ Die Überzeugung der USA sei heute: „Wir können nicht mehr zwei Dinge - führende Wirtschafts- und Militärmacht sein. Und: Sich gleichzeitig für die globale Ordnung zuständig zu fühlen“, analysiert Gabriel.
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Die Amerikaner ziehen sich also aus zwischenstaatlichen Organisationen oder als Geber von Entwicklungshilfe zurück und fokussieren sich auf ihre eigenen Interessen. „Da wo die Amerikaner rausgehen, gehen nun Autoritäre rein“, beobachtet Gabriel. Mit anderen Worten: „Wenn der Sheriff die Mainstreet verlässt, kommen die Gangster. Und die einzigen, die nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, sind die Europäer.“
Sigmar Gabriel: Möglichst wenig innenpolitischer Krach
Gabriels Ratschlag an die nächste Regierung lautet deshalb: „Möglichst wenig innenpolitischer Krach, damit der Kanzler Zeit hat, sich um das wirklich Wichtige zu kümmern.“ Und das „Wichtige“ sind für Gabriel nicht etwa große Steuergeschenke oder Entlastungen, wie sie im Bundestagswahlkampf wieder von allen Parteien versprochen werden – hier glaubt der ehemalige Vize-Kanzler ohnehin: „Nichts von dem, was sie versprechen, werden sie bezahlen können.“ Zentral für Gabriel dagegen ist: Den aus seiner Sicht jahrelang vernachlässigten europäischen Zusammenhalt wieder bekräftigen. „Die Regierung hat sich nicht um das europäische Zentrum gekümmert.“
Gabriel bezieht sich damit auf das Weimarer Dreieck - Frankreich, Deutschland und Polen. Diese Dreiecksbeziehung dürfe nicht weiter stiefmütterlich behandelt werden. Zig Reformvorschläge zur EU aus Frankreich seien in den vergangenen Jahren jedoch ohne deutsche Reaktion geblieben. Und mit den Polen sei auch nicht gerade sensibel umgegangen worden. Gabriels Beispiel: „Wir haben im Norden wie verrückt die Windenergie ausgebaut. Was haben wir damit gemacht?“ Deutschland habe den Strom dann „den Polen ins Netz gedrückt“, die dann ihre Kraftwerke heruntergefahren und rote Zahlen geschrieben hätten. So würden sich die Polen die europäische Einheit sicher nicht vorstellen, kommentierte es Gabriel.
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Aber es ist nicht nur das falsche Auftreten in der EU. Freihandelsabkommen mit Kanada, eine Erneuerung der Zollunion mit der Türkei, Wirtschaftskooperationen mit dem globalen Süden – hier müsse die Bundesrepublik endlich aktiv werden und die Einigungen nicht aufgrund unterschiedlicher Umweltstandards oder „dummer“ Argumenten wie damals beim gescheiterten Freihandelsabkommen mit den USA (TTIP) misslingen lassen. „Wir müssen aufhören, so einen Unfug zu machen“, betont Gabriel in seiner gewohnt schroffen Art.
Die „Zeitenwende“, die Olaf Scholz 2022 ausgerufen hat, sei viel mehr als der Angriff Putins auf die Ukraine und die Konsequenz, 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr bereitzustellen. „Zeitenwende heißt, in die Welt zu gucken, wie sie wirklich ist“, die dramatische Veränderung der Weltordnung also zu akzeptieren und dabei seinen Platz zu finden. „Das wird nur funktionieren, wenn wir unsere Wirtschaftsleitung wieder entwickeln – und sie im Dienste der europäischen Gemeinschaft stellen.“
Das, so Gabriel, werde auf jeden Fall anstrengend werden, die guten Jahrzehnte, in denen Deutschland der Gewinner der Globalisierung war, seien erst einmal vorbei. „Aber wenn wir uns behaupten wollen, in einer Welt, in der sich alles ändert, müssen wir zusammenarbeiten.“ Sonst, da ist Gabriel überzeugt, „werden andere entscheiden, wie wir leben.“
Die SPD Gelsenkirchen setzt ihre Talk-Reihe mit prominenten Gästen aus der Partei am 14. Februar fort. Dann ist der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil von 19.30 bis 22 Uhr zu Gast im Wissenschaftspark. Anmelden kann man sich für die Veranstaltung unter gelsenkirchen.spd-infoportal.de/klingbeil