Gelsenkirchen. Soll Gelsenkirchen die Einführung der Bezahlkarte für Flüchtlinge verhindern? Möglich wäre es. Aber die Entscheidung fällt manchen sehr schwer.
Nach dieser Debatte ist klar: Es wird noch einiges geklärt werden müssen, bis man in Gelsenkirchen entscheidet, ob hier nun die Bezahlkarte für Geflüchtete eingeführt werden soll oder nicht.
Grüne fordern: Gelsenkirchen soll Bezahlkarte nicht einführen
Die Grünen hatten in einem Antrag gefordert, in Gelsenkirchen von der sogenannten „Opt-Out“-Regelung Gebrauch zu machen (die WAZ berichtete). Damit können sich Kommunen widersetzen, die Ende 2024 landesweite beschlossene Einführung der Bezahlkarte mitzugehen.
Schwierigkeiten, eine Position zu diesem Antrag zu finden, hat besonders die stärkste Fraktion im Gelsenkirchener Stadtrat: Die SPD hat nun erst mal 33 Fragen an die Stadt verschickt, durch die etwa in Erfahrung gebracht werden soll, wie teuer die Einführung der Karte genau wäre, wie sich der Aufwand für die Verwaltung verändern würde oder wie genau das gegenwärtige System in Gelsenkirchen funktioniert, bei dem Bezieher von Asylbewerberleistungen in der Regel Geld auf ihr Girokonto überwiesen bekommen.
„Gerade in Gelsenkirchen wollen wir daran arbeiten, dass wir die Integration fördern und keine zusätzliche Last für die Kommune schaffen. Deshalb wollen wir vorab noch einige Fragen klären“, sagte Anna-Lena Karl von der SPD-Fraktion.
Bei CDU, AfD, Linken, FDP und AUF ist die Meinungsbildung dagegen schon deutlich fortgeschritten, wie sich im Ausschuss für Soziales zeigte.
Bezahlkarte: Linke Gelsenkirchen spricht von „populistischer Nebelkerze“
Während sich die Linken und die noch weiter links stehende AUF dafür aussprachen, den Grünen-Vorstoß unterstützen zu wollen und etwa die Linkenpolitiker Bettina Peipe die Bezahlkarte als „populistische Nebelkerze, die Handlungsfähigkeit suggerieren soll“ bezeichnete, zeigte sich Alfred Brosch von der CDU besorgt, sollte ausgerechnet Gelsenkirchen von der Bezahlkarte Abstand nehmen.
„Die Bezahlkarte stoppt Überweisungen in die alte Heimat und reduziert damit die Schlepperkriminalität.“
Broschs Argument: Gelsenkirchen könne für Migranten und Geflüchtete „eine bevorzugte Adresse bleiben“, falls man hier, im Gegensatz zu vielen anderen Kommunen, am Bargeld-System festhalte.
Das hielt auch Anne Schürmann von der FDP für wichtig: Sie warnte davor, Anreize für Binnenmigration zwischen den Kommunen zu schaffen – und zog dafür ausgerechnet den baden-württembergischen Grünen-Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann heran. Dieser hatte einst zur Umstellung auf Bezahlkarten gesagt: „Das sollten möglichst alle Länder machen, damit nicht wieder Migration entsteht, dorthin, wo das nicht umgesetzt wird“.
Ingrid Wüllscheidt von den Grünen konterte, sie bilde sich eine Meinung unabhängig von dem, was Spitzenpolitiker ihrer Partei sagen würden. Die Bezahlkarte sei unnötig, bloß Symbolpolitik und diskriminierend. Schließlich würde man ausgerechnet auf Flohmärkten oder in Sozialkaufhäusern, also Orte, „wo Menschen einkaufen, die wenig Geld haben“, nur mit Bargeld und damit nicht mit der Bezahlkarte zahlen können.
Überweisungen ins Ausland: AfD-Berechnung wirft Fragen auf
Die AfD ist dafür, die Einführung der Bezahlkarte nicht weiter zu verzögern, unter anderem, um Geldtransfers von Geflüchteten in ihre Heimatländer zu stoppen. Fraktionschef Jan Preuß stellte die Behauptung auf, „wir haben jährlich in Deutschland von den Geflüchteten zirka rund 250 Millionen Euro, die ins Ausland überwiesen werden – über die offiziellen Kanäle“. Hinzukämen schätzungsweise Millionen über inoffizielle Wege.
Grundlage für Preuß‘ Berechnung war offenbar eine noch recht junge Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Der Auswertung nach lag der Anteil der Geflüchteten, die Geld ins Ausland senden, im Jahr 2022 bei lediglich sieben Prozent. „Die politische Debatte spiegelt also überhaupt nicht die Realität wider“, schlussfolgerten die Studienautoren. „Die Vorstellung, dass Geflüchtete, die auf Grundsicherung angewiesen sind, in großem Umfang Geld ins Ausland schicken könnten, entbehrt jeder empirischen Grundlage.“
Rücküberweisungen ins Ausland insgesamt hoch
Viel Geld wird von Deutschland aus ins Ausland überwiesen: Laut Daten der Bundesbank haben die jährlichen Auslandsüberweisungen inzwischen die Höhe von 22 Milliarden Euro jährlich erreicht. Dabei wird jedoch nicht unterschieden, ob diese Überweisungen von Geflüchteten oder Menschen mit bzw. ohne Migrationshintergrund getätigt werden.
Der Beitrag der Menschen mit Fluchthintergrund scheint dabei jedenfalls äußerst gering zu sein. Laut der DIW-Studie gilt: Der Anteil der Geflüchteten, die Geld ins Ausland senden, ist seit 2012 von 13 auf sieben Prozent gesunken, während er bei Migranten insgesamt von acht auf zwölf Prozent gestiegen ist.
Unterbunden werden könnte mit der Bezahlkarte nur der Transfer der Geflüchteten, die Asylbewerberleistung erhalten. Das sind Menschen, die noch im laufenden Asylverfahren sind oder deren Verfahren negativ beschieden wurde (u.a. Geduldete). Rund 522 700 Personen in Deutschland haben am Jahresende 2023 diese Regelleistungen bezogen.
Preuß deutete die Studie für sich genau andersherum. Er nahm an, dass sieben Prozent der Schutzsuchenden (insgesamt knapp 3 Millionen Menschen im Jahr 2022) rund 1000 bis 1500 Euro pro Jahr ins Ausland schicken würden. Das würden dann tatsächlich über 200 Millionen Euro ergeben – eine viel zu hohe Zahl aus Sicht des AfDlers. Eine Angabe über die Höhen der Geldtransfers pro Flüchtling gibt es beim DIW allerdings nicht. Dort hält man es für „illusorisch“, dass tatsächlich an die 1000 Euro pro Jahr von einem Leistungsbezieher ins Ausland geschickt werden könnten.
Asylbewerber erhalten rund 18 Prozent weniger Sozialhilfe als Deutsche bzw. anerkannte Geflüchtete und Flüchtlinge aus der Ukraine bekommen (441 Euro, nur 196 Euro sollen auf der Bezahlkarte landen). Der Betrag wird in der Regel noch mal reduziert, wenn sie in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht sind.
CDU Gelsenkirchen würde für Bezahlkarte stimmen – SPD ist skeptisch
Daniel Siebel von der SPD, der für einen Redebeitrag kurzzeitig seine Rolle als Ausschussvorsitzender ablegte, zeigte sich deshalb verwundert über Preuß‘ Berechnung. Ihm fehle die Fantasie, wie man mit so einem Taschengeld noch „tonnenweise Geld ins Ausland“ überweisen könne. Nach jetzigem Informationsstand müsse man zudem davon ausgehen, dass der Aufwand, die Bezahlkarte einzuführen, höher sei als beim bewährten System zu bleiben, hielt Siebel fest.
Nach jetzigem Informationsstand hätte die CDU, der Koalitionspartner der SPD in Gelsenkirchen, allerdings schon für die Bezahlkarte votiert, wie die Union kurz nach dem Sozialausschuss in einer Pressemitteilung verkündete. Damit dürfte die Karte noch zu einem richtigen Zankapfel in der rot-schwarzen Koalition werden, die noch bis zur Kommunalwahl am 14. September in Verantwortung ist.
Möglich wäre es aber auch, den Beschluss auf die lange Bank zu schieben: Die Stadt Gelsenkirchen muss erst bis Ende des Jahres eine Entscheidung zur Bezahlkarte treffen. Dann wird Gelsenkirchen längst einen neuen Stadtrat gewählt haben.
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