Gelsenkirchen. Ist Deutschland für einen Krieg mit Russland vorbereitet? Welche Attacken gibt es schon heute? Gelsenkirchen im Zentrum der Sicherheitsfrage.
Konflikte, Krisen, Fake-News-Kampagnen: Die Welt erfährt eine Destabilisierung, die sich auch auf Deutschland auswirkt. Die Stärkung der Bundeswehr, Waffenlieferungen, die Frage der Wehrpflicht und die Rolle Deutschlands in der NATO und der EU rücken weit nach oben auf der politischen Agenda. Aber auch Themen wie Desinformation, die Rolle der Medien sowie die wachsende Polarisierung der Gesellschaft beschäftigen viele. In Townhall-Diskussionen der Münchner Sicherheitskonferenz diskutieren Experten aus Politik, Medien und Bundeswehr bei „Zeitenwende on tour“ offen über diese Themen.
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Am Dienstagabend bot die Glashalle im Schloss Horst Raum für eine spannende Debatte unter anderem über die Bundeswehr, die Bedrohung aus Russland und China und die Folgen der EU-Südosterweiterung für Städte wie Gelsenkirchen, Hagen oder Duisburg. Generalleutnant André Bodemann, NRW-Innenminister Herbert Reul, Politologin Jana Puglierin, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, sowie Sinan Sat, Redaktionsleiter der WAZ Gelsenkirchen, diskutierten mit Moderatorin Gina Nießer die Frage, was uns unsere innere und äußere Sicherheit wert ist.
100 Milliarden Euro Sondervermögen für Bundeswehr werde nicht reichen
Wesentlich mehr als bisher muss uns unsere Sicherheit wert sein nach Ansicht von Jana Puglierin. Die Politologin ist sich sicher, dass das 100 Milliarden Euro Sondervermögen zur Ertüchtigung der Bundeswehr bei weitem nicht ausreichen werde. „Wir werden dafür künftig mehr als zwei Prozent unseres Bruttoinlandproduktes ausgeben müssen.“ Innerhalb der Nato machen Zahlen von 2,5 bis drei Prozent schon die Runde, weil unklar ist, wie das Engagement der USA für das transatlantische Verteidigungsbündnis in der zweiten Trump‘schen Amtszeit ausfallen wird.
Laut Puglierin fehlt es aber sowohl in Teilen der Bevölkerung als auch auch in der Politik an Bewusstsein für die tatsächliche Bedrohungslage in Deutschland – sei es durch chinesische Spionage und Technologie wie auch durch Russland. „Wir leben in einem bedrohten Zustand“, lautet ihre These, über Jahrzehnte habe man „Sicherheit für eine Selbstverständlichkeit gehalten wie das Wetter“. In Skandinavien und im Baltikum sei eine ganz andere Denkweise vorherrschend. Dort werde der nationalen Sicherheit alles andere unterstellt. Der Ansatz: „Was nützen eine gut ausgebaute Straße oder ausreichend Kita-Plätze, wenn Freiheit und Demokratie bedroht sind?“
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„Wir sind nicht im Krieg, aber Russland hat die feste Absicht, einen großmaßstäblichen Krieg zu führen“
Wie groß die Bedrohungslage für Deutschland ist, das zeichnete Generalleutnant André Bodemann auf. „Wir sind nicht im Krieg, aber Russland hat die feste Absicht, einen großmaßstäblichen Krieg zu führen“, sagte der gebürtige Hagener. Sabotage, Spionage, Cyber-Angriffe und die Verbreitung von Fake-News seien die Mittel dazu.
Russland produziere aktuell bis zu 1.500 Kampfpanzer pro Jahr. Deutschland besitze dagegen gerade einmal rund 300 Kampfpanzer. Deshalb müssen Deutschland und die NATO so viel Abschreckungspotenzial haben, dass Russlands Präsident den Krieg nicht weiter ausdehnt. „Russland spielt mit unserer Angst, aber es hat selbst am meisten Angst vor unserer Demokratie, vor unserer gesellschaftlichen Geschlossenheit – das ist unser Pfund“, so der hochdekorierte Soldat.
Bei der Bundeswehr gibt es die Erkenntnis, dass Wladimir Putin bereits Kasernen an den westlichen Grenzen und Munitionsdepots mit Mensch und Material auffüllt. Der Generalinspekteur Carsten Breuer nannte bei „Maischberger“ die Zahl von „vier Millionen Schuss“, Analysen zufolge könne die russische Armee in fünf bis acht Jahren voll kampffähig sein, schätzte Breuer in der Talksendung. Die freiheitlichen Demokratien seien eine zu große Gefahr für die autokratische Machtpyramide in Russland, so der Generalinspekteur. Daher diene der Krieg Putin dazu, diese Gefahr einzudämmen.
Herbert Reul: Das sind Beispiele für die Bedrohung der inneren Sicherheit
NRW-Innenminister Herbert Reul räumte ein, dass Deutschland „nicht vorbereitet“ sei und zu lange nicht richtig hingeschaut habe. „Wir dachten, es gibt hier jeden Tag ein Friedensfest. Das ist aber nicht so.“ Der CDU-Politiker nannte Clan-Kriminalität und Cyberangriffe auf die Uniklinik Düsseldorf oder die FUNKE Mediengruppe, zu der auch die WAZ gehört, als Beispiele für die Bedrohung der inneren Sicherheit und warb ebenso für mehr Mittel zur Kriminalitätsbekämpfung wie für eine „offene Diskussion, wie wir künftig kritische Infrastruktur schützen wollen.“
Straftaten würden heute beispielsweise in Chat-Bereichen von Onlinespielen verabredet und geplant, den Sicherheitsbehörden müssten deshalb mehr Kräfte und mehr technische Möglichkeiten und Kontrollmechanismen an die Hand gegeben werden, um solche Kriminalität aufzudecken und zu bekämpfen. „Wir müssen daher ehrlicher miteinander diskutieren, an welchen Stellen man das Geld ausgibt“. Mehr Sicherheit gehe im Zweifelsfall beispielsweise zu Lasten von mehr Kita-Plätzen.
Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung
Für Reul und Jana Puglierin spielen Medien eine wichtige Rolle im Kampf gegen das wachsende Misstrauen gegen das politische System, gegen die EU und „den wachsenden Wunsch nach Disruption.“ Ein Umstand, den sich Rechtspopulisten zu nutzen machen. WAZ-Redaktionsleiter Sinan Sat führt das unter anderem auch darauf zurück, dass man strukturschwache Städte wie Gelsenkirchen mit Tausenden zugewanderten Menschen aus den EU-Ostländern „am langen Arm verhungern lässt“. Das Misstrauen gegen das System sei auch dadurch gewachsen, weil zu lange unterschiedliche politische Meinungen unter den Teppich gekehrt worden seien.
Zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung sieht Sat mitunter eine große Diskrepanz, was zu einem Vertrauensverlust der Menschen gegenüber klassischen Medien beigetragen habe, übt der Journalist deutliche Kritik an seinem eigenen Berufszweig. Auf die Frage, wie er dem denn begegne, berichtete Sinan Sat, dass er versuche im Lokalen Vertrauen dadurch zurückzugewinnen, „mit allen politischen Lagern zu reden“, sich viel innerhalb der Stadtgesellschaft zu bewegen, Menschen zu treffen und ihnen zuzuhören und letztlich: „Zu schreiben, was ist.“
„Wir können Frieden und Wohlstand für Deutschland und Europa sichern“
„Sagen, was ist. Darüber sprechen und sich austauschen“, genau das sei schließlich auch der Gedanke hinter der Zeitenwende on Tour, nahm der Gastgeber und Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen, den Faden auf. Der ehemalige Top-Diplomat wirbt dafür, dass Deutschland in der sicherheitspolitischen Wirklichkeit ankommt und entsprechend handelt. „Wir dürfen die Welt nicht von anderen neu ordnen lassen, sondern müssen aktiv mitgestalten.“
Heusgen räumt rückblickend ein, dass es ein Fehler gewesen sei, die zweite Ostsee-Pipeline (Nord Stream 2) gebaut und entgegen vieler internationaler Warnungen ans Netz gebracht zu haben. Und auch die Vernachlässigung der Ausgaben für die Bundeswehr und zum Schutz der kritischen Infrastruktur in Deutschland sei ein Fehler gewesen. Umso mehr brauche es nun auch Entschlossenheit. „Unser Frieden und unser Wohlstand sind bedroht. Und es wird niemand mehr kommen, der uns unsere Verteidigung und die Lösung unserer deutschen und europäischen Sicherheitsprobleme abnimmt. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Wenn wir das Notwendige tun, können wir Frieden und Wohlstand für Deutschland und Europa sichern. Es hängt mehr von uns selbst ab als zuvor.“