Gelsenkirchen. Gelsenkirchen wird zur Bühne für ein besonderes Town Hall über die „Zeitenwende“-Politik, über Krieg und Sicherheit. Auch Herbert Reul dabei.
„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Wenige Tage nach der russischen Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz mit diesen Worten eine grundlegende Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik an. Was ist mit dem Begriff der Zeitenwende konkret gemeint? Und was sagen die Menschen in Deutschland zu den Veränderungen? Eine Initiative der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) bietet ihnen ein Forum - und kommt damit nach Gelsenkirchen.
Am 26. November wird die Glashalle des Schlosses Horst zur politischen Bühne, dann diskutieren Herbert Reul, NRW-Innenminister, Generalleutnant André Bodemann, Befehlshaber Territoriales Führungskommando der Bundeswehr und Nationaler Territorialer Befehlshaber, Jana Puglierin, Head of Berlin Office und Senior Policy Fellow, European Council on Foreign Relations, Christoph Heusgen, Botschafter und Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz sowie Sinan Sat, Redaktionsleiter der WAZ Gelsenkirchen miteinander. Im Vorfeld des Townhalls gibt Christoph Heusgen, seit 2022 im Amt, im WAZ-Interview einen Blick darauf, was die Zuschauer in Gelsenkirchen erwartet.
„Deutschland muss in der sicherheitspolitischen Wirklichkeit ankommen“
Herr Heusgen, Sie haben in Ihrer langen Diplomaten-Karriere schon viele internationale Krisen erlebt. Doch scheint die Welt derzeit an einem Punkt mit sehr vielen Konflikten und Krisen gleichzeitig zu stehen. Im Ost-West-Konflikt bilden sich wieder neue Allianzen, im Nahen Osten droht ein Flächenbrand, in den USA und anderen Ländern scheint die Demokratie zunehmend in Gefahr zu geraten, nationalistische Bestrebungen sind vielerorts im Aufwind und zugleich sind so viele Menschen aus politischen und wirtschaftlichen Gründen sowie wegen Naturkatastrophen auf der Flucht wie nie zuvor. Stehen wir gerade vor einer Neuordnung unserer Welt – vor einer globalen „Zeitenwende“?
Deutschland hat sehr lange nicht wahrhaben wollen, dass sich die europäischen und internationalen Rahmenbedingungen verändern. Deshalb empfinden wir das, was jetzt passiert, als „Zeitenwende“. Deutschland muss in der sicherheitspolitischen Wirklichkeit ankommen und entsprechend handeln. Wir dürfen die Welt nicht von anderen neu ordnen lassen, sondern müssen aktiv mitgestalten.
Wie sicher sind dann unser Frieden und unser Wohlstand?
Unser Frieden und unser Wohlstand sind bedroht. Und es wird niemand mehr kommen, der uns unsere Verteidigung und die Lösung unserer deutschen und europäischen Sicherheitsprobleme abnimmt. Das heißt im Umkehrschluss aber auch: Wenn wir das Notwendige tun, können wir Frieden und Wohlstand für Deutschland und Europa sichern. Es hängt mehr von uns selbst ab als zuvor.
Was ist Ihrer Meinung nach nötig, um Frieden und Wachstum in Europa und darüber hinaus zu sichern und zu fördern?
Frieden ist das Wichtigste. Dafür müssen wir Putins Angriffskrieg stoppen und eine dauerhafte Sicherheitsordnung in Europa errichten. Gerade nach der Wiederwahl Trumps brauchen wir jetzt eine europäische Initiative dafür. Wir können nicht nur abwarten, was aus Washington kommt. Wachstum bekommen wir mit unserem Geschäftsmodell durch technologische Führerschaft und durch internationale Kooperation. Dafür müssen wir die globalen Regeln mitgestalten.
„Auch in Gelsenkirchen ändert sich das Leben durch die ‚Zeitenwende‘“
Mit dem Zeitenwende-Diskussionsformat sind Sie schon in zahlreichen deutschen Städten unterwegs gewesen und haben mit vielen Menschen gesprochen. Was haben Sie beobachtet, wie wirken sich die multiplen Krisen auf das Leben der Menschen aus?
Die Menschen im Land erwarten Klarheit und Orientierung. Sie wollen wie Erwachsene behandelt werden. Meine Erfahrung ist, dass man überall in Deutschland ernsthaft über Sicherheitspolitik reden kann, auch über die Kosten. Dass es unterschiedliche Auffassungen gibt und auch Ängste, ist doch gerade ein Grund, dass wir miteinander sprechen müssen. Auch in Gelsenkirchen ändert sich das Leben der Menschen durch die „Zeitenwende“.
Und was erwarten die Menschen nun von der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik?
Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muss unseren Interessen entsprechen. Wir wollen in Freiheit, Frieden und Wohlstand leben, gemeinsam mit unseren Partnern und Freunden in Europa und auf der Welt. Über den Weg dahin kann und muss man streiten. Ich finde es aber z.B. traurig, dass die Bundesregierung bis heute sagt, dass wir der Ukraine helfen und das so lange wie nötig tun, aber weder innerhalb der Regierung noch mit den Partnern geklärt hat, warum wir das eigentlich machen. Was ist das strategische Ziel? Klarheit darüber erwarten die Menschen zurecht. Ich denke, wir müssen die Ukraine so unterstützen, dass sie Putin zurück zum Frieden drängen kann. Darüber werden wir sicher auch bei der Townhall in Gelsenkirchen sprechen.
Botschafter Christoph Heusgen
Botschafter Christoph Heusgen ist seit 2022 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Er studierte an der Universität St. Gallen, dem Georgia Southern College in den USA und an der Sorbonne in Paris. Er promovierte an der Universität St. Gallen, wo er zurzeit Politikwissenschaft lehrt.
Botschafter Heusgen trat im Jahr 1980 in den Auswärtigen Dienst ein. Nach Stationen im deutschen Konsulat in Chicago und der deutschen Botschaft in Paris wurde er 1988 zum Persönlichen Referenten des Koordinators für Deutsch-Französische Zusammenarbeit ernannt. Von 1993 bis 1997 arbeitete Heusgen im Ministerbüro von Außenminister Klaus Kinkel. Anschließend übernahm er für zwei Jahre die Leitung der Unterabteilung Europa im Auswärtigen Amt.
Von 1999 bis 2005 leitete Christoph Heusgen den Politischen Stab des Hohen Vertreters für Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union, Javier Solana. Seit 2005 beriet er Bundeskanzlerin Merkel zu außen- und sicherheitspolitischen Fragen und leitete als Ministerialdirektor die Abteilung für Außenpolitik im Bundeskanzleramt. Bevor er den Vorsitz der MSC übernahm, war Botschafter Heusgen von 2017 bis 2021 Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei den Vereinten Nationen in New York und saß im April 2019 und Juli 2020 dem UN-Sicherheitsrat vor.
Kommen wir zur Münchener Sicherheitskonferenz, die ja das Mutterformat der Zeitenwende-Tour ist: Wenn Sie auf die Hauptkonferenzen der vergangenen Jahre zurückblicken: Was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Ich erinnere mich gut an Präsident Selenskyj auf der Konferenz im Februar 2022 direkt vor Kriegsausbruch und daran, dass wir alles Erdenkliche getan haben, um Putin von seinen Angriffsplänen noch irgendwie abzubringen. Ich erinnere mich auch gut an 2024, als wir direkt vor dem Beginn der Konferenz vom Tod Alexei Navalnys erfuhren, während seine Frau Julia Navalnaja bei uns war und dann eine bewegende Rede hielt.
Was würden Sie als größten Erfolg der Konferenz bezeichnen, bei welchem Konflikt haben Sie als MSC die größte Enttäuschung erlebt?
Die MSC ist heute das weltweit bedeutendste Forum für internationalen Austausch in einer Zeit voller Kriege und Konflikte. Ich bin stolz darauf, dass wir es unter meiner Führung geschafft haben, mehr Staaten aus Lateinamerika, aus Asien und aus Afrika aktiv in die Konferenz einzubeziehen. Dieser Weg wird weiterhin wichtig sein. Enttäuschungen gehören zum diplomatischen Geschäft dazu. Man muss den Dialog für Frieden immer und immer wieder versuchen. Dass wir mit „Zeitenwende on tour“ jetzt auch intensiven Dialog mit den Menschen in unserem eigenen Land führen, ist mir ein besonderes Anliegen
Anmelden können sich Interessierte zur Zeitenwende on tour im Gelsenkirchener Schloss Horst online unter securityconference.org/zeitenwende/anmeldung/.