Gelsenkirchen. Reiten war Nicole Schäfer als Kind zu öde. Heute ist die 27-jährige Profi-Boxerin. Und kämpft Bare Knuckle. Warum all diese Schmerzen?
Nicole Schäfer eine Grenzgängerin zu nennen, ist wahrscheinlich noch untertrieben. Die 27-jährige Gelsenkirchenerin „sucht das Extreme“. Das Profi-Boxen allein reicht ihr nicht, die Lehramtsstudentin steigt mit bloßen Fäusten in den Ring - als Bare-Knuckle-Kämpferin. Das heißt, gekämpft wird wie einst in der Antike mit bandagierten Handgelenken, die Knöchel bleiben nackt.
Bei Bare-Knuckle, da denken viele immer noch an eine mythenumwobene Welt in einer gesetzlichen Grauzone, die dort ausgelebt wird, wo Ordnungshüter eher nicht vorbeischauen – irgendwo im Hinterland, auf Parkplätzen oder in zwielichtigen Pubs. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass das Boxen mit bloßen Fäusten eine uralte Geschichte hat und im Zuge der steigenden Popularität von Mixed Martial Arts (MMA) auch das (Geschäfts-)Interesse an professionellen Wettkämpfen gestiegen ist. Kampfbörsen von mehreren Hunderttausend oder über einer Million Dollar in der Spitze sind in Übersee keine Seltenheit mehr.
„Ich will zeigen, dass ich dafür geschaffen bin, dass Frauen genauso viel leisten und Schmerzen aushalten können wie Männer.““
Ohne Handschuhe: Gelsenkirchener Bare-Knuckle-Kämpferin will 2026 um den WM-Titel boxen
Schäfers Ziel ist es, 2026 um die Weltmeisterschaft zu kämpfen. Titelträgerin in ihrer Gewichtsklasse im Fliegengewicht ist die US-Amerikanerin Christine Ferea, Spitzname „Misfit“. Als „Misfit“, als Außenseiterin also, versteht sich Nicole Schäfer hingegen nicht, vielmehr als Wegbereiterin. „Beim Bare-Knuckle-Fighting war ich die erste deutsche Profi-Kämpferin“, sagt die 1,61 Meter große Sportlerin von sich. Ihr Ringduell mit Daniela Graf im März dieses Jahres war demnach „der erste Kampf zweier Frauen des Verbandes Bare-Knuckle FC in Europa.“ Mit an der Spitze dieser 2018 gegründeten Organisation steht übrigens kein Geringerer als MMA-Superstar Conor McGregor.
Ohne Klischees bedienen zu wollen: Die Sportart, die Nicole Schäfer in ihrer Kindheit prägte, war zweifellos typischer für Mädchen als der Kampf mit der bloßen Faust. „Reiten, das war mir auf Dauer aber zu langweilig“, erinnert sich die 27-Jährige. „Als ich 13 Jahre alt war, brauchte ich unbedingt etwas zum Auspowern, damit ich nachts schlafen konnte.“ In der Dorstener „Workers Hall“, fand sie, was sie suchte - das Boxen. Und einen Trainer, der sie förderte. Mit 16 bestritt sie ihren ersten Wettkampf, mit 23 wurde sie Profi.
Eltern waren „entsetzt“: einmal und nie wieder live zu Gast am Boxring
Zum „Entsetzen“ ihrer Eltern, wie Schäfer unumwunden zugibt. Bei ihrem ersten Boxkampf saßen ihre Mutter und ihr Vater am Ring im Publikum. Es war die reinste Folter für die beiden. Bei jedem Schlagabtausch sind sie „vor Sorge fast umgekommen“, dass „ich ernsthaft verletzt werde“. Die Angst ist geblieben, mittlerweile schaut sich „mein Vater ab und zu über einen Stream einen Kampf an“, sagt die Sportlerin. Er ist zugegebenermaßen Boxfan, sieht aber lieber andere als sein Kind in den Seilen.
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Warum tut sie sich das an, dieses harte Training, die Kämpfe und nicht zuletzt die Schmerzen? „Ich will zeigen, dass ich dafür geschaffen bin, dass Frauen genauso viel leisten und Schmerzen aushalten können wie Männer“, sagt Nicole zu ihrer Motivation. Dafür trainiert sie mit ihrem Trainer Eduard Müller zweimal täglich, in der Hochphase vor Wettkämpfen sogar dreimal täglich in Essen-Vogelheim - Ausdauer, Kraft, Technik.
Aber mit bloßen Fäusten, ist das nicht viel gefährlicher als mit Handschuhen? Denn wer an Bare-Knuckle-Fights denkt, dem kommen wilde Keilereien mit blutigen Gesichtern und ausgeschlagenen Zähnen in den Sinn. Zwangsläufig, so wie es in Filmen wie „Fight Club“ zu sehen ist. „Nach dem ersten Treffer mit bloßen Fäusten war ich geschockt. Der Unterschied zum Boxen ist enorm. Aber man ist so voller Adrenalin im Ring, dass man die Schmerzen selten spürt. Außerdem habe ich mich daran gewöhnt.“
Dass Bare-Knuckle-Sport gefährlicher sein soll als das klassische Boxen, daran glaubt sie nicht. „Denn auch wir haben Regeln, Ringrichter und auch Ärzte“, widerspricht Nicole. Beispielsweise sind es nur fünf Runden von jeweils zweiminütiger Dauer. Ein Niederschlag hat wie beim Boxen zehn Sekunden Anzählen zur Folge. Die 27-Jährige schätzt dieses Kräftemessens sogar als weniger risikoreich ein als das Boxen.
„Man schlägt bewusster und mehr zum Körper als zum Kopf, damit man sich am harten Schädel nicht die Hand bricht“, begründet sie ihre Auffassung. Mit Handschuhen sinke hingegen die Hemmschwelle vor schweren Schlägen für dramatische Knockouts und ein fröhliches Publikum. Sie selbst ist bislang weitgehend verschont geblieben. Ein Nasenbruch und ein kaum sichtbare, winzige Narbe über dem linken Auge nach einem Cut sind bislang die einzigen Blessuren, die die Erlerin nach insgesamt 36 Kämpfen in ihrer bisherigen Laufbahn davongetragen hat.
Kampfsportfans strömen in Massen in die Arenen, um die teils blutigen Spektakel zu verfolgen. Insbesondere in Amerika. Dort, im sonnigen Miami im Bundesstaat Florida, soll auch Nicole nächster Bare-Knuckle-Profikampf über die Bühne gehen. Wahrscheinlich im Dezember, Details wie Zeit und Gegnerin stehen noch nicht fest.
„Meine Motivation ist es, möglichst unbeschadet aus einem Kampf herauszugehen. Meine Gegnerin soll mehr gezeichnet sein als ich, allein schon wegen meiner Eltern“, erzählt Nicole von ihrer Herangehensweise. Als eher kleine Boxerin mit geringerer Reichweite als manche Konkurrentin mache sie es wie Mike Tyson - „rein in den Mann, sorry, die Frau, und dann möglichst viele Wirkungstreffer landen“.
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Ausgerechnet als wir sie zum Interview treffen, hat Nicole Schäfer ihren letzten Arbeitstag in der Fighter Factory Recklinghausen. Bis dato gab sie dort Kindern regelmäßig Box-Unterricht. „Ach“, seufzt die 27-Jährige und blickt auf eine Schar ungeduldig mit den Füßen trippelnder Kids. „Die Kleinen werden mir fehlen.“ Dank mehrerer Sponsoren kann sie sich nämlich jetzt ganz auf ihre eigene Sportlerkarriere konzentrieren.
Aber was, wenn am Ende das Ziel in weite Ferne rückt wegen zu starker Konkurrenz oder doch wegen einer Verletzung - wie lautet ihr Plan B? „Dann unterrichte ich an einer Schule.“ Die 27-Jährige macht bald ihren Master in Deutsch und - Religion. Aus ihr schöpft sie übrigens „auch die Kraft“, sich diese ganze Schinderei anzutun. Der Glaube, er versetzt Berge.
Boxhandschuhe nach Totschlag
Boxwettkämpfe wurden 688 vor Christus zu einer olympischen Disziplin. Die Athleten kämpften ohne Pause, bis ein Kontrahent nicht mehr imstande war, sich zu verteidigen. Der britische Boxer Jack Broughton führte für Trainings- und Schaukämpfe den Gebrauch von gedämpften Boxhandschuhen ein (mufflers), nachdem er einen Gegner totgeschlagen hatte.
Broughton schlug 1742 die nach ihm benannten Regeln vor: Kampfpause nach einem Niederschlag, keine Schläge unter die Gürtellinie. Die 1867 vereinbarten Queensberry-Regeln fanden gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine weite Verbreitung. Sie umfassten:
- das Tragen von Boxhandschuhen
- eine dreiminütige Rundenzeit mit einminütiger Pause
- das Anzählen bis zehn nach einem Niederschlag.