Gelsenkirchen. Wann Mama oder Papa sterben, bricht für Familien oft die Welt zusammen. In Gelsenkirchen hilft „Lavia“, Wege zum Leben und Trauern zu finden.
Die Mutter des siebenjährigen Ben ist in seinem Beisein verstorben. Der Vater kann sich damit nicht abfinden, gibt den Sohn beim Jugendamt ab und droht, sich umzubringen. Beide leben noch, heute auch wieder unter einem Dach. Zwei Jahre nach dem Tod der Mutter wird der Junge in der Schule auffällig. Er fühlt sich gemobbt, und reagiert mit Aggressivität und Wutausbrüchen. Ben kommt jetzt wieder in die Trauergruppe, wo ihm und dem Vater klar wurde: Die Ereignisse in der Schule rufen den Schmerz nach dem Tod der Mutter in Erinnerung. Der Trauerprozess ist nicht abgeschlossen. Bei „Lavia“ bekommt Ben Hilfe.
Die Unterstützung durch die Lavia-Trauerbegleitung, vor Jahrzehnten von Mechthild Schroeter-Rupieper aufgebaut, ist in Gelsenkirchen längst bekannt. 26 qualifizierte Trauerbegleiterinnen und -begleiter betreuen hier Kinder, Familien, Alleinstehende, die einen nahestehenden Angehörigen oder Freund verloren haben. Mittlerweile sind unter den Begleitern unter anderen auch ehemals Betreute, denen die Lavia-Begleitung zurück ins Leben geholfen hat.
Zu den extremsten Fällen gehören die hinterbliebenen Kinder der Opfer von Femiziden. Also Fällen, in denen Partner die Mutter getötet haben. Auch solche Fälle, allerdings aus Nachbarstädten, wurden hier bereits begleitet. Details dazu möchte man verständlicherweise nicht preisgeben.
„Nicht die Trauer macht krank, sondern das Nicht-Trauern“
Das auch von außen anheimelnde Lavia-Haus an der Ecke Günnigfelder Straße am Ückendorfer Friedhof lädt Menschen ein, den Verlust eines geliebten Menschen zu betrauern, um ihn überwinden zu können. Denn „Nicht die Trauer macht krank, sondern das Nicht-Trauern kann krank machen“ erklärt Mechthild Schroeter-Rupieper.
Es ist Präventionsarbeit, die hier geleistet wird. „Wenn ein enges Familienmitglied gestorben ist, ändert sich so vieles. Oft wird die finanzielle Situation schwierig, wenn etwa der Hauptverdiener gestorben ist, für die Kinder ist die Situation besonders belastend. Oft versuchen die Verbliebenen erstmal nur, zu funktionieren, die Trauer wegzudrücken. Auf die Dauer aber macht das krank, manchmal auch körperlich“, hat die Gelsenkirchener Gründerin der Familientrauerarbeit oft genug erlebt.
Im Lavia-Haus und dem Garten bekommen Betroffene in Gruppen, aber auch in Einzelsitzungen Unterstützung und praktische Lebenshilfe. Ein großes Problem für die Arbeit: Weder die Stadt Gelsenkirchen noch etliche Nachbarstädte noch die Krankenkassen bieten eine verlässliche Finanzierung. Jugendämter aus Essen und Bochum schicken zwar ebenfalls regelmäßig Unterstützungsbedürftige aus ihren Städten ins Haus, übernehmen jedoch die Kosten für deren Kursteilnahme.
Vierfache Mutter begeht Selbstmord, weil ihr das Warten auf Hilfe zu lang wurde
Gelsenkirchen hingegen zahlte bisher lediglich fünf Mal, in extremen Einzelfällen und auch dann nur für eine kurze Begleitung in der Notfallsituation sowie mit einem einmaligen Zuschuss von 10.000 Euro vor zwei Jahren. Gezahlt wurde etwa bei den vier Kindern, die nach dem Selbstmord der verwitweten Mutter Hilfe benötigten. Aber auch für sie übernahm die Stadt damals lediglich die kurzfristige Notfallbegleitung für wenige Stunden. Die Mutter hatte in ihrem Abschiedsbrief geschrieben, dass sie Hilfe benötigte, aber das Warten auf einen Therapieplatz zu lang und unaushaltbar war.
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Die fehlende finanzielle Unterstützung ist ein Zustand, der auch viele Mitglieder des Gesundheitsausschusses, in dem Schroeter-Rupieper ihre Arbeit jüngst vorstellte, verwunderte. Immerhin könnte die Situation sich ändern angesichts der neuen Leitungen im Jugendamt und Dezernaten, hofft das Lavia-Team. Die Fraktion der Grünen diskutiert bereits, inwieweit sie eine Projektunterstützung für den nächsten Haushalt beantragt.
Größere Hoffnung allerdings setzt das Lavia-Team auf den nun gestellten Antrag auf Anerkennung als Träger der Freien Jugendhilfe. Dann könnte auch gezielte finanzielle Unterstützung für die Präventivarbeit über Institutionen wie den Landschaftsverband Westfalen-Lippe beantragt werden, so die Hoffnung. Die Anregung dafür kam aus der Verwaltung.
Bisher ist die Lavia-Arbeit auf Spenden und die Erlöse aus den Seminaren angewiesen, die die Leiterin europaweit hält. In der Region schult sie Führungskräfte und Sozialverantwortliche der Justiz, Polizei und Erzieherinnen, bietet Fortbildungen für pädagogisch Tätige an, berät in und nach Notsituationen.
Das Lavia-Gebäude in Ückendorf ist von Gelsendienste angemietet, Mietfreiheit wird bisher abgelehnt. Einnahmen aus den Spenden gehen so vielfach für Miete und Nebenkosten und zum Teil auch für die Verwaltungsmitarbeiter drauf, auf die man zur Entlastung in der Trauerarbeit angewiesen ist.
Die vielfältigen Trauergruppen – von der Kindergruppe über Jugendliche bis zur Gruppe der jung Verwitweten und der (durch den Tod der Kinder) verwaisten Eltern – dürfen Betroffene allerdings auch heute schon besuchen, wenn sie die eigentlich dafür benötigten Spendenbeiträge nicht aufbringen können. Und das soll auch so bleiben, versichert Schroeter-Rupieper. Bei allem wird die ganze Familie systemisch eingebunden, der Wirksamkeit zuliebe.
Neues Buch zum „Lebensweg- und Trauermodell“
Wie Trauerarbeit funktioniert, welche Aufgaben es zu bewältigen gibt, wie sie zusammenhängen und wie es ohne das Durchleben der sich wiederholenden Phasen kaum möglich ist, die Narben verheilen zu lassen, die durch den Verlust entstanden sind: Das hat Schroeter-Rupieper in einem neuen Praxisbuch erklärt. Darin stellt sie das von ihr entwickelte „Lebensweg - und Trauermodell“ vor. Erschienen ist das Buch im Patmos-Verlag, erhältlich im Buchhandel und im Lavia-Haus zu 22 Euro.
Spenden an die gemeinnützige GmbH Lavia sind möglich auf das Konto DE74 3606 0295 1001 3390 16. Für eine Spendenquittung bedarf es zudem einer E-Mail an GutesTun@lavia.de mit der eigenen Adresse.