Gelsenkirchen-Scholven. Keine klassische Klassenaufteilung, keine Langeweile und ein neuer Begabungsbegriff: Darum macht diese Schule in Gelsenkirchen so viel anders.
Gemeinsames Lernen ohne eine gute Mischung innerhalb der Klasse geht nicht: Davon ist Schulleiter Rüdiger Schrade-Tönnißen überzeugt. Weil es aber eine solche gute Mischung von Talenten innerhalb eines Jahrgangs nur selten gibt, und noch seltener Kinder gleich gut Mathematik und Sprachen lernen, hat seine Grundschule Im Brömm den Unterricht nun auf ein ganz anderes Konzept zur individuellen Förderung umgestellt.
An der Scholvener Grundschule gibt es seit August 2023 keine Aufteilung in erste, zweite, dritte, vierte Klasse mehr. Vielmehr sitzen in jeder Klasse Kinder aus allen vier Jahrgängen. Jeder und Jede lernt im eigenen Tempo und von dem Startpunkt aus, von dem sie in die Schule gekommen sind. „Es gibt Kinder, die können lesen, wenn sie eingeschult werden. Und es gibt Kinder, die erst die Sprache lernen müssen. Oder andere, die Lernspiele brauchen, um ihr Können und Wissen zu erweitern. Bei uns dürfen die, die schon lesen können, sofort ganz andere Aufgaben lösen. Die anderen können in Ruhe Sprache und Schrift lernen“, erklärt Schrade-Tönnißen die Idee dahinter.
„Die Kinder sollen heulen, wenn die Schule wegen Ferien schließt“
Das Konzept, mit einem Schulbuch für alle Kinder eines Jahrgangs bis zum Ende des Schuljahres das Gleiche schaffen zu können, nennt der erfahrene Pädagoge eine Illusion. Seit Jahren arbeitet man hier - wie auch manch andere Schule - mit Arbeitsblättern, die dem aktuellen Lernstand des Einzelnen angemessen sind. „Bei uns muss sich kein Kind langweilen“, verspricht er. „Unser Ziel ist: Die Kinder müssen heulen, wenn es heißt, die Ferien beginnen, ihr könnt nicht zur Schule“, ergänzt er, nur bedingt scherzhaft.
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Allerdings meint Förderung hier eben auch, jene mit besonders hoher Auffassungsgabe, schnellem Lerntempo zu unterstützen. „Das haben wir natürlich auch vorher schon getan, aber jetzt gehen wir das noch gezielter an“, erklärt der Schulleiter. Mit gezielten Fortbildungen der Lehrkräfte auch für diesen Bereich. „Kinder mit überschießender Intelligenz zeigen an anderen Schulen oft unangepasstes Verhalten, weil sie sich langweilen. Oft wird ihre besondere Begabung deshalb gar nicht erkannt“, hat er erfahren. Um ihnen gerecht zu werden, brauche es andere Konzepte.
Lehrerin Jessica Winkler brennt für den Gedanken, in alle Richtungen zu fördern. Die ersten Schulungen hat sie längst absolviert, über das Talentzentrum will sie aber ihren Methodenkoffer noch deutlich üppiger ausstatten. „Ich freue mich darauf, möglichst viele Wege, Methoden und Materialien für gutes Lernen zu bekommen“, bekennt sie.
Blitzrechnen mit unterschiedlichsten Materialien und Medien
Eine Stunde lang haben wir die junge Lehrkraft und ihre „Fledermausklasse“ begleitet. 23 Kinder zwischen sechs und 11 Jahren sitzen in der Klasse. Anfangs bei der Morgenrunde und auch später zwischendurch sitzen alle zusammen, danach in kleinen in Arbeitsgrüppchen. Es ist erstaunlich ruhig in der Klasse, Jessica Winkler bremst allzu Mitteilungsbedürftige sanft, aber bestimmt, damit alle zu Wort kommen und alle alles mitbekommen.
Eine gute Struktur ist für diese Unterrichtsform ganz besonders wichtig. Und die hat die frisch verbeamtete Lehrkraft eindeutig geschaffen. Als „Blitzrechnen“ auf dem Stundenplan steht, verteilt sie einzeln Arbeitsmäppchen mit passgenauen Aufgaben. Einige Kinder rechnen am Tablet im Hunderter- oder Tausender-Zahlenraum, andere nutzen ein Arbeitsheft fürs Addieren, die dritten testen sich gegenseitig mit Aufgabenkärtchen, die Lösung der Aufgaben kontrolliert der Sitznachbar. Auch das läuft gut. Ältere profitierten ebenfalls von der Mischung, wenn sie ihre Basiskenntnisse nebenbei mit den Jüngeren nochmal überprüfen, versichert Winkler.
Beim Verteilen der Materialien gibt es auch gleich Feedback zur letzten Aufgabe, die das Kind bewältigt hat. „Den Stoff kannst du, alles war richtig. Gut gemacht. Du kannst wirklich etwas Neues anfangen“, lobt Jessica Winkler. Direkte Rückmeldung, Motivation gehört zum Konzept.
Tests gibt es, wenn der Schüler sich fit dafür fühlt
Und auch, wenn nicht mit Druck gearbeitet wird: Die Leistungen werden kontrolliert. Mini-Tests, die die Schüler schreiben, wenn sie sich dafür fit genug fühlen, zeigen Kind und Lehrkraft, wie der Lernstand ist. Eine pädagogische Doppelbesetzung gibt es trotz der herausfordernden Arbeit in der Klasse nicht, aber immerhin befristete Unterstützung für Geflüchtete.
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Sitzenbleiben gibt es hier nicht. Wer am Ende eines Schuljahres als „Erstie“ das Lernziel für dieses Jahr nicht erreicht hat, bleibt im gleichen Klassenverband, gemeinsam mit den anderen. Lediglich, wer den Stoff, der für den Wechsel zur weiterführenden Schule nötig ist, beherrscht, verlässt die Fledermausklasse. Nach vier, fünf und vereinzelt auch sechs Jahren. Dafür rücken dann neue „Ersties“ nach. Kooperationspartner sind die Gesamtschulen Berger Feld und Buer Mitte sowie das Max-Planck-Gymnasium.
Jeder dritte Schüler hat besonderen Förderbedarf
„Etwa ein Drittel der Kinder benötigen fünf Jahre, bis sie so weit sind“, erklärt der Schulleiter. Mehr als zwei Drittel der Kinder kommen mit Migrationsgeschichte, viele ohne oder mit wenigen Sprachkenntnissen. Insgesamt gibt es bei einem Drittel der Kinder hohen Förderbedarf, inklusive der sprachlichen Erstförderung. „Dabei ist Sprache gar nicht das große Problem. Das lernen die Kinder hier schnell“, versichert der Rektor.
„Wir haben den Begabungsbegriff ausgeweitet. Neben Naturwissenschaften und Sprachen auch auf musische oder handwerkliche Talente und ‚Tröster‘. Ich meine extrem einfühlsame Kinder, das werden ideale Pädagogen! Und es gibt Kinder, die sehr gut ihre Bedarfe formulieren können, sagen, was sie für gutes Lernen benötigen. Auch das ist ein Talent“, erklärt der Pädagoge.
Auch andere Grundschulen haben Interesse gezeigt
Schon mehrere Schulen haben sich das Unterrichtssystem Im Brömm angeschaut, überlegen, es selbst zu nutzen. „Das braucht eine gute Vorbereitung und damit viel Zeit, wir haben das seit 2017 vorbereitet. Aber es lohnt sich. Gerade in einer Stadt wie Gelsenkirchen“, ist Rüdiger Schrade-Tönnißen überzeugt.
Dieser Text ist erstmals am 11. Oktober 2024 erschienen.