Gelsenkirchen. Sie kümmern sich um die Menschen, die wohnungslos und/oder drogenkrank sind: Das erleben die Streetworkerinnen auf Gelsenkirchens Straßen.

Ein lauer Sommermorgen im Gelsenkirchener Süden: Die Luft ist noch angenehm frisch, erst am Nachmittag wird es sicher wieder heiß werden. Einen Steinwurf entfernt von der Kurt-Schumacher-Straße und unter der A42 starten vier Frauen gemeinsam in einen Arbeitstag, von dem sie nicht wissen, was er ihnen bringen wird. Cornelia Müller, Jennifer Ruhnau, Daniela Gordon-Heldt und Natalie Erbach kümmern sich um die, die durch sämtliche Raster und Netze gefallen sind. Die Streetworkerinnen sind für all die Menschen da, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist.

Gelsenkirchens Streetworkerinnen: Für all die Menschen da, deren Lebensmittelpunkt die Straße ist

Streetwork dieser Art macht der in der Emscherstadt bekannte und renommierte Verein Arzt Mobil, gegründet vor 25 Jahren, in Kooperation mit dem Caritasverband Gelsenkirchen möglich. Hinter dem eigentlich so einfachen Wort „Streetwork“ (aufsuchende Sozialarbeit) steht eine besondere Herausforderung: Müller, Ruhnau, Gordon-Heldt und Erbach bieten mit ihrer Arbeit unbürokratisch und niederschwellig Hilfen für suchtmittelabhängige und/oder wohnungslose Menschen an. Wie viele es in Gelsenkirchen sind? Das können sie nicht genau sagen. Aber eingrenzen, das geht: „Es sind zwischen 280 und 380 pro Jahr, die wir irgendwo treffen“, sagt die Diplom-Sozialarbeiterin Cornelia Müller. Irgendwo, das ist vor allem in Horst, Buer, Erle, in der Alt- und in der Neustadt.

Jennifer Ruhnau, Cornelia Müller, Natalie Erbach und Daniela Gordon-Heldt machen Streetwork in Gelsenkirchen: „Unsere Arbeit ist häufig auch ein Begleiten.“
Jennifer Ruhnau, Cornelia Müller, Natalie Erbach und Daniela Gordon-Heldt machen Streetwork in Gelsenkirchen: „Unsere Arbeit ist häufig auch ein Begleiten.“ © FUNKE Foto Services | Daniel Attia

Es gibt Kaffee und Wasser an der Caubstraße 28, direkt hinter der städtischen Notschlafstelle für obdachlose Männer, den sie alle nur den Caub-Bunker nennen. Die Streetworkerinnen machen sich bereit für ihren Gang auf die Straße. Es ist Zeit für Fragen und Gespräche, aber irgendwie müssen sie doch auf die Uhr schauen. Gelsenkirchens Süden ist heute ihr Revier, das ist an jedem Donnerstag so, denn wenn eins wichtig ist für die Menschen auf der Straße, dann ist es: Verlässlichkeit.

Erkennungszeichen der Gelsenkirchener Streetworkerinnen: der blaue Rucksack

Ihre wichtigsten Begleiter liegen bereits startklar auf dem großen Tisch in der Mitte des Raumes. Nicht nur, weil sie in sich eine Menge Utensilien (Spritzen, Nadeln, Pfeifen) für den sicheren Konsum von Crack und Heroin bereithalten. „Viele Menschen erkennen uns mittlerweile auch an den blauen Rucksäcken und sprechen uns an“, erzählt Sozialarbeiterin Natalie Erbach. Das Feedback sei durchweg positiv.

Erste Station: Margarethe-Zingler-Platz. Sie stehen am Rand, sitzen auf den Stufen, viele von ihnen sichtbar angeschlagen. Sucht schert sich nicht um Tageszeiten. Viele vorbeilaufende Menschen machen einen Bogen um die Gruppe, die vier Streetworkerinnen stehen mitten unter ihnen. Sie reden, fragen nach, ob etwas gebraucht wird. Wir treffen Heinzi, der Schluss gemacht hat mit den Drogen, wie er sagt. Der aber trotzdem noch immer zu seinen alten Freundinnen und Freunden zurückkehrt, um „zu gucken, wer noch da ist.“ Natalie Erbach, die neben ihm steht, hat ein großes Paket Taschentücher in der Hand – die gehen immer, sind sogar heiß begehrt. Kaum einem hier auf der Straße läuft nicht die Nase.

Freudige Begrüßung: „Ich freue mich, wenn ich euch sehe“

Es geht weiter, zweite Station: Wilhelm Sternemann Haus. Im „Löffel“ gibt es wie immer ein warmes Mittagessen für einen Euro. Barbara Blenkers hat hier bereits Halt gemacht mit ihrem Arzt-Mobil, der rollenden Arztpraxis, die ja auch dazugehört und so wichtig ist, für die aufsuchende Arbeit, die sie bei Arzt Mobil anbieten. Barbara Blenkers ist Ärztin, gemeinsam mit ihrem Kollegen, dem Krankenpfleger Rafet Alijevic, steuert sie über Gelsenkirchens Straßen die Orte an, an denen sich die Szene trifft. Blenkers und Alijevic ermöglichen so einen Zugang zu medizinischer Versorgung für die Menschen, die es nicht schaffen, Arzttermine zu vereinbaren oder einzuhalten, die oftmals keine Krankenversicherung haben, die sich vielleicht auch vor einem Krankenhausaufenthalt fürchten.

Barbara Blenkers ist angestellte Ärztin bei dem Verein „Arzt Mobil Gelsenkirchen“.
Barbara Blenkers ist angestellte Ärztin bei dem Verein „Arzt Mobil Gelsenkirchen“. © FUNKE Foto Services | Daniel Attia

Vom Löffel geht es zurück in die City, Jennifer Ruhnau und Natalie Erbach wollen über die Bahnhofstraße laufen. Ihre beiden Kolleginnen sind mit dem Auto bereits zu ihrem Tagesziel gefahren, dem Hauptbahnhof. „Ah, da ist die Bank ja schon voll“, sagt Jennifer Ruhnau und schaut hinauf zu einer Gruppe Männer, die hier gerne sitzen, am Fuße der Ahstraße, und trinken. „Ich freue mich, wenn ich euch sehe“, sagt einer von ihnen. Er scheint in Form, denn er legt sogar noch einen drauf: „Und wenn es euch gut geht.“ Erbach und Ruhnau lachen.

„Wir schauen mal, ob Bördi da ist“, sagt Jennifer Ruhnau. Bördi haben wir zuvor schon am Löffel gesehen, auch er scheint einen guten Tag zu haben. Vor den Türen eines Discounters hat Bördi seinen angestammten Platz. Viel trägt er nicht bei sich, sein ganzes Leben passt in einen Einkaufstrolley. „Ich habe mein Bett immer dabei“, sagt der 41-Jährige. Seine Nächte verbringt er in einer Tiefgarage in der Nähe, sein Leben polytoxisch. Er konsumiert Alkohol und harte Substanzen. Über die Streetworkerinnen sagt er: „Ich könnte mir das Leben ohne sie nicht vorstellen. Auf der Straße ist es schon einsam.“ Nach eigenen Angaben lebt Bördi seit drei Jahren ohne Obdach. Ob das stimmt, können die Streetworkerinnen nicht sagen. Häufig verschwimme das Zeitgefühl, schuld ist das Leben in dieser Parallelwelt, die Drogen, der Alkohol.

Einsamkeit ist eins der größten Probleme auf der Straße

Überhaupt: Einsamkeit, das sei eins der größten Themen auf der Straße. Sich über andere Dinge austauschen zu können, als über den täglichen Überlebenskampf, „endlich mal ein normales Gespräch führen zu können“, das würden die Klientinnen und Klienten der Streetworkerinnen schätzen. Müller, Ruhnau, Gordon-Heldt und Erbach sind manchmal eben auch einfach nur da, um zuzuhören und dafür, dass die Menschen ihre Sorgen loswerden können. „Wir sind wie ein Gefäß, mit offenem Boden“, beschreibt es Jennifer Ruhnau ganz passend. „Unsere Arbeit ist häufig auch ein Begleiten“, ordnet Cornelia Müller gleichsam ein.

„Gesundheitsfürsorge völlig im Hintergrund“

Der Verein Arzt Mobil Gelsenkirchen wurde 1998 von Vertretern der Stadt, der Ärztekammer und der Kassenärztlichen Vereinigung gegründet. Der Verein ist gemeinnützig und durch Spenden finanziert, das Team freut sich jederzeit über Zuwendungen.

Das Ziel: Niedrigschwellige, aufsuchende medizinische Hilfe für wohnungslose und/oder suchtmittelabhängige Menschen anzubieten. „Für viele dieser Personen steht die eigene Gesundheitsfürsorge völlig im Hintergrund. Das ,Um-sich-selbst und seine Angelegenheiten kümmern` ist von der Obdachlosigkeit und Abhängigkeitserkrankung überschattet. Arzttermine zu vereinbaren fällt vielen schwer, vor Krankenhausaufenthalten fürchten sich einige. Manchmal ist es auch die fehlende Zuversicht auf eine lebenswerte Zukunft“, heißt es seitens Arztmobil.

Fester Bestandteil der Arbeit von Arzt Mobil ist – ebenfalls seit 25 Jahren – die mobile medizinische Betreuung der Klientinnen und Klienten vor Ort. 1998 starteten sie mit einem umgebauten Wohnmobil. Seit diesem Jahr freuen sich über ein nagelneues Fahrzeug, das das Ehepaar Nickel gespendet hat.

2003 hat der Verein die Trägerschaft der Drogentherapeutischen Ambulanz übernommen und bietet seitdem psychosoziale Begleitung in substituierenden Arztpraxen an. Seit 2008 bietet Arzt Mobil in Kooperation mit dem Caritasverband das Projekt Streetwork an.

Arzt Mobil Weitere, ausführliche Informationen gibt es auf der Homepage des Vereins unter arztmobil-gelsenkirchen.de

Manche ihrer Klienten würden sich immerzu in Schleifen drehen, auch das sei anstrengend, auch das müssten sie aushalten. Und, dass sich Gefühle bei diesen intensiven Begegnungen übertragen können, sich davon „nichts anzunehmen, ist eine Riesen-Herausforderung“, erzählt Jennifer Ruhnau. „Man sieht sehr viel Elend“, bekennt die Sozialarbeiterin. Was hilft, ist der ganz offene Austausch untereinander. Die vier Kolleginnen, sie verstehen sich gut, das merkt man sofort.

Dass die Bedürftigkeit zugenommen hat, können sie alle bestätigen. „Die Klientel hat sich verändert, mittlerweile sehen wir sehr viele junge Menschen“, berichtet Daniela Gordon-Heldt irgendwann im Laufe dieses Tages, an dem wir die Streetworkerinnen begleiten dürfen. Die 42-Jährige und ihre Kollegin Cornelia Müller sind von Anfang an dabei, 2009 war das. Über ihr Job-Verständnis sagt die Oberhausenerin: „Man muss erstmal lernen, sich abzugrenzen, gelassener zu werden.“ Und natürlich habe sie auch Lieblinge, Menschen der Straße, die ihr mehr am Herzen liegen als andere.

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Letzte Station: Am Südausgang des Hauptbahnhofs haben sich die vier Streetworkerinnen mit ihrem weithin erkennbaren Auto aufgestellt. Mittlerweile zeigt das Thermometer wieder an die 30 Grad. Viele ihrer Klienten treffen sie hier heute nicht an. Ein, zwei Trinker, mehr nicht. Früher, da habe es am und um den Hauptbahnhof herum eine viel größere Szene gegeben, berichten sie. „Hier ist aber absolut kein Schwerpunkt mehr“, sagt Cornelia Müller. Das habe sich jetzt in die Stadtteile verlagert. Die Vier schauen sich an, „das war ein guter Tag“, finden sie.