Gelsenkirchen. Lina Thiede, inspiriert von ihrer Oma, entdeckt Gelsenkirchen als neue Stadtschreiberin und bringt frischen Wind in die lokale Literaturszene.

Wenn Oma nicht wäre! Ja, wenn die Oma nicht wäre, dann würde Lina Thiede sicherlich dennoch schreiben, aber eben keine „Oma-Texte“. Die inzwischen 82-jährige Großmutter aus dem Westerwald entpuppte sich schon früh als geniale Inspirationsquelle für die humoristischen und gesellschaftskritischen Erzählungen der neuen Stadtschreiberin Lina Thiede. Die 28-Jährige aus Gießen erhielt das nunmehr zum vierten Mal vergebene Gelsenkirchener Literaturstipendium und stellte sich am Dienstagabend im Ückendorfer Lokal „Hier ist nicht da“ erstmals in einer Lesung vor.

Natürlich auch mit einem Oma-Text. „Das sind autofiktionale Geschichten“, sagt die bereits vielfach preisgekrönte Schriftstellerin. „Einiges ist selbst erlebt, anderes frei erfunden.“ Literatur eben. Die Geschichte „Vier Damen“, aus der sie vorlas, erzählt wie andere dieses Formats auch vom Glück der Enkelin-Oma-Beziehung, aber auch von Generationenkonflikten, von Sprachlosigkeit und Unverständnis.

Freunde staunten: „Warum in Gelsenkirchen?“

Ungläubig reagierte zunächst auch der Freundeskreis in Köln, wo Lina Thiede mit ihrem Mann seit einigen Jahren lebt, auf die Aussicht der Autorin, drei Monate lang im Ruhrgebiet leben und arbeiten zu können. Lina Thiede lacht: „Zuerst hieß es: Wow, ein Stipendium, toll!“ Und dann habe man sie staunend gefragt: „Aber warum in Gelsenkirchen?“ Doch die neue Stadtschreiberin freut sich riesig darauf, diese Stadt, ihre Menschen und überhaupt das Ruhrgebiet und seine Geschichte kennenlernen zu können: „Ich war bislang noch nie in Gelsenkirchen“, gesteht sie.

Ihr erster Eindruck ist der aller Neuankömmlinge: „Ich hätte nicht gedacht, dass es hier so grün ist.“ Gleich hinterm Wissenschaftspark habe sie das Gefühl einer Wald- und Berglandschaft gehabt: „Großartig!“

Ermöglicht wird dieser Aufenthalt durch das Literaturstipendium „Writer in Residence“, das seit 2021 jährlich von der Stadt Gelsenkirchen in Kooperation mit der Gelsenwasser-Stiftung und der Stadterneuerungsgesellschaft (SEG) vergeben wird. Dr. Bärbel Kerkhoff, Geschäftsführerin der Stiftung, die sich ansonsten vor allem für die Förderung von Kindern und Jugendlichen engagiert, begrüßte am Dienstag die neue Stipendiatin und betonte: „Wir schaffen Möglichkeiten und Zeit, wir verschenken Chancen.“

Lina Thiede beschreibt ihren eigenen Schreibstil als knapp und konzentriert, ihre Texte seien humorvoll, ironisch, spannend.
Lina Thiede beschreibt ihren eigenen Schreibstil als knapp und konzentriert, ihre Texte seien humorvoll, ironisch, spannend. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Lina Thiede will diese Zeit sehr gut nutzen. Natürlich, um selbst am Schreibtisch in ihrer Stipendiatenwohnung im Haus Reichstein an der Bochumer Straße kreativ zu werden. Mit dem wunderbaren Blick auf die Kulturkirche Heilig-Kreuz plant sie zum Beispiel einen neuen Oma-Text. Sie schmunzelt: „Der könnte in Gelsenkirchen spielen, meine Oma will mich hier auch besuchen.“ Und da die Autorin auch Musikwissenschaft studiert hat, soll Johann Sebastian Bach in dieser Geschichte eine wichtige Rolle spielen. Man darf gespannt sein. Aber auch für die Vollendung bereits begonnener Manuskripte will Thiede die geschenkte Zeit nutzen.

Daneben aber will die Stipendiatin ganz nah bei den Menschen in Gelsenkirchen sein. Einige hat sie bereits kennengelernt: „Ich bin überall unglaublich freundlich aufgenommen worden.“

Ihren eigenen Schreibstil bezeichnet die Autorin als knapp und konzentriert, ihre Texte seien humorvoll, ironisch, spannend, auch mal absurd und surreal: „Ich probiere gerne vieles aus, wechsele das Genre, habe einfach Spaß am Schreiben.“ Neben Oma inspirieren sie ganz alltägliche Erlebnisse.

Stadtschreiber entwickeln enge Beziehung zu Gelsenkirchen

Kultur-Referatsleiterin Andrea Lamest freut sich besonders über ein von der Stadtschreiberin entwickeltes neues Format. Das heißt „Geschrieben und Gelesen“ und umfasst gleichermaßen Textwerkstatt und Offene Bühne. Lina Thiede über ihre Idee: „In der Werkstatt werden zunächst die zuvor eingereichten Prosatexte der maximal sechs Teilnehmer besprochen.“ Bei der im Anschluss folgenden Offenen Bühne dürfen die dann der Öffentlichkeit präsentiert werden.

Diese Angebote finden sowohl im Stadtsüden („Hier ist nicht da“ an der Bochumer Straße 138 und im „Wohnzimmer, Wilhelminenstraße 174b) als auch im Norden (Werkstatt, Hagenstraße 34) statt. Die Hoffnung von Lina Thiede: „Dass sich dieses Format in Gelsenkirchen etabliert und bleibt, auch wenn ich längst wieder weg bin.“

Dass die Stadtschreiber durchaus eine enge Beziehung zu Gelsenkirchen entwickeln, das dokumentieren die Vorgänger Carola Gruber, Gabriel Wolkenfeld und Tim Holland: Sie alle werden beim Festival „Szeniale“ am Wochenende in Ückendorf zu Gast sein.

Die erste Textwerkstatt plus offener Bühne findet am Dienstag, 3. September, 18 Uhr, in der Werkstatt in Buer statt. Weitere Informationen: www.gelsenkirchen.de/literaturstipendium