Amsterdam. In Amsterdam hat sich ein regelrechter Anne-Frank-Tourismus etabliert. Firmen möchten an der berühmten Tagebuchschreiberin verdienen.

Wer das Versteck sehen will, wo zwei Jahre lang eine Ikone der Hoffnung gehaust hat, muss Geduld und bequeme Schuhe mitbringen. Ein sonniger Amsterdamer Nachmittag: Die Warteschlange draußen ist gut 80 Meter lang. Drinnen im Anne-Frank-Haus steigen die Besucher mühsam eine lange, schmale, abgenutzte Holztreppe hinauf. Sie sind gekommen, um sich die geheime Hinterhaus-Wohnung anzuschauen, in der sich das jüdische Mädchen und seine Familie vor den Nazis verbargen. Hinter einem drehbaren Aktenschrank geht es hinein.

Doch nach wenigen Schritten treten sich die Touristen gegenseitig auf die Füße. Stau im Museum.

Blick in die Geheimwohnung, in der Anne Frank und ihre Familie zwei Jahre lang hausten.
Blick in die Geheimwohnung, in der Anne Frank und ihre Familie zwei Jahre lang hausten. © picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Peter Dejong

Die verwinkelten Räume sind überfüllt. Verwundertes Gemurmel unter den Besuchern. Irgendwann führt eine Museumsmitarbeiterin eine beleibte Frau mit kurzer Hose und bleichem Gesicht an den wartenden Menschen vorbei Richtung Ausgang. Eine weitere Mitarbeiterin eilt mit einem Putzeimer nach oben. Als ihnen klar wird, dass sich in der dunklen Geheimwohnung jemand übergeben hat, verziehen zwei Besucherinnen angewidert das Gesicht. Ob die schreckliche Aura des Hauses oder die Anstrengung des Treppensteigens der bleichen Dame zugesetzt hat, bleibt unklar.

Anne Frank wurde vor 80 Jahren von den Nazis entdeckt

Vor genau 80 Jahren, am 4. August 1944, ist die Familie Frank in diesem Versteck entdeckt worden. Anne wurde ins Konzentrationslager Bergen-Belsen deportiert und starb im Alter von 15 Jahren. Ihr Tagebuch prägt bis heute die Erinnerungskultur. Anne Frank ist das bekannteste Opfer des Holocausts.

Ihre ungebrochene Popularität hat einen Preis: In Amsterdam hat sich eine Art Anne-Frank-Tourismus etabliert. 1,2 Millionen Menschen besichtigten im vergangenen Jahr das Haus an der Prinsengracht. Direkt daneben befindet sich ein Fremdenverkehrsbüro mit der Aufschrift „Tours & Tickets“, in unmittelbarer Nähe lockt das „Amsterdam Cheese Museum“ mit Gouda in allen Portionsgrößen. Anne Franks Versteck ist nach dem nach Rijks- und Van-Gogh-Museum eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten der Stadt.

Museum verkauft Anne-Frank-Souvenirs

Endlich geht es weiter. Die Besucher trippeln über den frisch gewischten Fußboden in die winzige Schlafkammer des Mädchens. An der Wand hängen verblichene Fotos der offenbar von Anne angehimmelten Filmstars Heinz Rühmann (1902-1994) und Ray Millard (1907-1986). Berührend. Das Zimmerchen ist für viele der Höhepunkt ihres Anne-Frank-Programmtags. Dazu gehört ein Bummel durch den Museumsshop. Dort gibt es: Postkarten mit schwarz-weiß-Bildern von Anne für 1,50 Euro. Kugelschreiber für 3,50. Ein 500-Teile-Puzzle mit einer Ansicht des Gebäudes für 11,50. Und natürlich das Tagebuch in verschiedenen Sprachen für 12,95. „Es ist ein Wunder, dass es in Amsterdam noch keine T-Shirts oder Kaffeebecher mit ihrem Bild gibt“, ätzte der niederländische Historiker Bart Wallet schon vor Jahren.

Eine 1957 von Annes Vater Otto Frank (1889-1980) gegründete Stiftung wacht darüber, dass Anne nicht von Geschäftemachern missbraucht wird. Sie betreibt das „Anne-Frank-Huis“ an der Prinsengracht. Gleichzeitig will die Stiftung, dass die Botschaft des Mädchens an kommende Generationen weitergegeben wird. Leisten Anne-Frank-Souvenirs einen Beitrag dazu? Darüber möchte die Stiftung nicht sprechen. Eine Interviewanfrage dieser Redaktion lehnt sie ab. Auf schriftlich übermittelte Fragen antwortet sie knapp: „In unserem Museumsshop konzentrieren wir uns auf Bücher und pädagogische Produkte über Anne Frank und den Holocaust.“ Wann ein Missbrauch zu kommerziellen Zwecken vorliege, könne man „nicht generell beurteilen“. 

Anne Frank starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Das Foto zeigt sie 1940 in ihrer Schule.
Anne Frank starb 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Das Foto zeigt sie 1940 in ihrer Schule. © mauritius images / IanDagnall Computing / Alamy / Alamy Stock Photos | All mauritius images

Wobei verschiedene Unternehmen die berühmte Journalschreiberin ziemlich dreist vereinnahmt haben. Ein niederländischer Geschirrhersteller brachte vor knapp anderthalb Jahren eine Schale mit vermeintlich typischen Holland-Motiven auf den Markt: einer Windmühle, Schlittschuhen, Pudding - und einer lächelnden Anne Frank mit ihrem Tagebuch in der Hand. Ein Onlineshop in den USA verkaufte kurz vor Halloween ein „Anne-Frank-Kostüm“ für Kinder. Es bestand aus einem blauen Kleid mit angenähtem Etikett, einem grünen Barett und einem braunen Tornister. „Nun kann Ihr Kind die Rolle einer Heldin aus dem Zweiten Weltkrieg spielen“, hieß es in der Produktbeschreibung.

Manchmal haben Konzerne ehrenwerte Absichten, überblicken aber den historischen Kontext nicht. Die Deutsche Bahn überraschte 2017 mit der Ankündigung, einen ICE „Anne Frank“ nennen zu wollen, um „die Erinnerung wachzuhalten“. Damals protestierte das Anne-Frank-Haus: Die Verbindung zwischen Anne und einem Zug wecke Assoziationen mit den Deportationen von Juden in der Nazizeit. Die Bahn gab daraufhin kleinlaut zu: „Wir müssen einräumen, dass wir das Thema leider falsch eingeschätzt und damit Gefühle verletzt haben.“

Justin Bieber schrieb ins Gästebuch des Anne-Frank-Hauses

In Amsterdam treten die Besucher aus der bedrückenden Enge hinaus auf die Straße. Zwei Japanerinnen machen Selfies, eine Familie aus Südamerika liest im Handy den Wikipedia-Eintrag zu Anne Frank, von irgendwo her riecht es nach Gras. Das Haus ist eine Pilgerstätte für Menschen aus der ganzen Welt. Könige waren hier, Fußballer, der Popstar Justin Bieber (30) schrieb ins Gästebuch, er wünsche sich, Anne wäre sein Fan gewesen. Am Ausgang steht ein Satz aus dem Tagebuch an der Wand: „Ich werde nicht unbedeutend bleiben“, schrieb Anne am 11. April 1944, knapp ein Jahr vor ihrem Tod. „Ich werde in der Welt und für die Menschen arbeiten!“