Essen. Im Gespräch schildern die scheidende und die neue Leiterin der Essener Telefonseelsorge, wie sie helfen und warum Suizid kein Tabuthema ist.
Nachdem sie 15 Jahre lang als Fachkraft in der katholischen Telefonseelsorge gearbeitet hatte, übernahm Elisabeth Hartmann nach der Zusammenführung die Leitung der ökumenischen Telefonseelsorge in Essen. Nach fünf Jahren in dieser Position hat sie die Leitung Ende Januar 2025 an ihre Nachfolgerin Susanne Abel, zuvor Krankenhausseelsorgerin am Uniklinikum Essen, übergeben. Ein Gespräch über zwei unterschiedliche Arten des Zuhörens, die um sich greifende Einsamkeit und den Umgang mit suizidgefährdeten Anrufern.
Frau Hartmann, erinnern Sie sich noch an Ihre Anfänge bei der Telefonseelsorge, an Ihr erstes Gespräch?
Ich hatte Respekt vor meiner neuen Aufgabe, fragte mich, ob ich das kann. Meine erste Anruferin war eine Krankenschwester, die lange krank gewesen war und sich jetzt neu auf eine Stelle beworben hatte. Kurz vor ihrem ersten Arbeitstag fragte sie sich, ob sie das schaffen würde, ob die Entscheidung richtig gewesen war. Da kamen plötzlich unsere beiden Themen in Übereinstimmung. Ich sage oft: Man bekommt hier die Themen, die man braucht. Die Arbeit hier ist immerzu ein persönliches Lernen und Wachsen.
Kein Job wie jeder andere – merkt man das auch im Umgang untereinander?
Wir reden hier sehr persönlich miteinander, über uns, unsere Bruchstellen, die Krisen, die wir überwunden haben. Für unsere Arbeit ist das wichtig: Zu erkennen, wie das Leben uns geprägt hat, welche Botschaften die Eltern in den eigenen Lebensrucksack gepackt haben und welche nachwirken.
Infoabend für Interessierte am 13. März
„Zuhören ist eine Kunst“, sagt Elisabeth Hartmann. Wer Lust hat, die zu lernen, aber auch, mehr über sich selbst zu erfahren und darüber, wie er Menschen in Krisensituationen helfen kann, für den könnte die Arbeit bei der Telefonseelsorge ein passendes Ehrenamt sein. Bei der ökumenischen Telefonseelsorge Essen arbeiteten derzeit knapp 120 Menschen, die zuständig sind für insgesamt 1,2 Millionen Einwohner: in Essen, Bottrop, Gelsenkirchen, Gladbeck, Velbert, Heiligenhaus. Zudem gibt es eine Kooperation mit der Telefonseelsorge Duisburg und Wesel.
Der nächste Infoabend zu diesem Ehrenamt wird am 13. März von 19 bis 21 Uhr stattfinden. Dabei wird u.a. über die Inhalte der Ausbildung informiert. Weitere Infos und Anmeldung telefonisch unter 0201 747480 oder per Mail an info@telefonseelsorge-essen.de
Nur wer sich selbst gut kennt, kann erkennen, was andere umtreibt?
Man muss sich bewusst machen, dass es oft eine Falle ist, zu glauben, dass man sich mit einem Thema besonders gut auskennt, weil man zum Beispiel auch schon eine Trennung durchgemacht hat. Jede Lebenssituation ist anders. Es geht darum, die Welt des anderen zu betreten und zu schauen, was bei ihm gerade los ist, welche Wünsche er hatte, was zerbrochen ist. Für uns Seelsorgende ist es gut, um die eigenen Verwundungen zu wissen und zugleich in der Lage zu sein, die eigenen Erfahrungen zurückzustellen, damit wir offen sind für die Anrufenden und deren Erleben.
Also erst einmal genau hinhören.
Zuhören ist bei uns etwas ganz Aktives. 80 Prozent unserer Bevölkerung hören zu, um zu antworten, 20 Prozent hören zu, um zu verstehen. Aber darum geht es – zuhören und das, was ich verstanden habe, in Worte zu fassen. Nicht bloß zu sagen: Ich verstehe. Wenn ich das hinbekomme, erhält das Gespräch eine Dynamik: Der oder die andere bekommt Lust, mehr zu erzählen. Denn es ist ein tiefes Bedürfnis, verstanden zu werden.
„Wir können für den Moment, in dem wir im Kontakt sind, ein Lichtblick des Tages sein. “
Was treibt die Menschen um, die bei Ihnen anrufen?
Viele Menschen leiden an einer psychischen Erkrankung. Die Zahl derer, die uns am Telefon sagen, dass sie eine diagnostizierte psychische Erkrankung haben, steigt jedes Jahr an. Bei vielen bricht der Kontakt zur Herkunftsfamilie ab, Freunde ziehen sich zurück, Lebensträume zerplatzen. Manche haben auch Angst, dass wir hier Krieg bekommen. Dass die Rente nicht mehr reicht, dass das Bürgergeld eingeschränkt wird, dass die sozialen Dienste nicht mehr so finanziert werden. Bei uns rufen viele Leute an, die davon abhängig sind, da geht es dann um existenzielle Dinge. Und das Thema Einsamkeit hat zugenommen. Fast jedes vierte Gespräch dreht sich darum.
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Wie lässt sich das erklären?
Susanne Abel: Vereinzelung in der Stadt spielt eine Rolle. Es gibt viele Singlehaushalte, und in der Lebensphase, in der der Beruf wegbricht, fehlen dann die Kontakte im Privaten. Außerdem haben wir eine alternde Gesellschaft. Wer alt wird, erlebt, wie der Bekannten- und Freundeskreis immer weniger wird. Manche haben auch den Partner oder die Partnerin gepflegt, sind dann verwitwet, haben durch die Pflege alle Kontakte vernachlässigt, und sind jetzt in einem Alter, in dem sie nicht mehr gut neue Kontakte aufbauen können.
Elisabeth Hartmann: Oft leiden vor allem ängstliche Menschen unter Einsamkeit: Sie verzichten auf Freizeitaktivitäten, wenn sie dafür abends noch aus dem Haus oder durch Stadtteile müssen, in denen sie sich unwohl fühlen. Anderen fehlt schlicht das Geld. Es gibt nur wenige Angebote, die nichts kosten, wo man einfach so dabei sein kann.
Abel: Die Menschen sind auch nicht immer völlig allein, sie sind schon angebunden, aber das Gefühl der Einsamkeit kann trotzdem da sein.
Hartmann: Es ist die Sehnsucht nach Beziehungen, die tiefer gehen. Einen Menschen zu haben, bei dem man sich wohlfühlt und geborgen, so einen Menschen, den man eben jedem wünschen würde.
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Was können Sie gegen das Gefühl der Einsamkeit ausrichten?
Hartmann: Wir können nichts heilen, auch die Einsamkeit nicht. Aber wir können für den Moment, in dem wir im Kontakt sind, ein Lichtblick des Tages sein. Weil wir Aufmerksamkeit geben. Vielleicht kann man im Miteinander feststellen, womit jemand noch Verbundenheit spürt, denn wenn man die spürt – mit was oder wem auch immer – steht man auf einer anderen Basis. Das kann Verbundenheit sein mit den Ahnen, mit der Natur, mit einem Tier.
Abel: Ich hatte neulich einen Anrufer, bei dem war es der Blick in die Wolken. Wir haben dann gemeinsam in die Wolken geschaut. Dann erzählte er von seinem Großvater und die Stimmung änderte sich: Er kam aus dem Gefühl der Einsamkeit heraus und in eine Verbindung.
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Neben der Einsamkeit – gibt es andere Themen, die häufiger angesprochen werden?
Hartmann: Auch das Thema depressive Stimmungen nimmt zu; gerade in der Mailseelsorge schreiben uns überwiegend junge Menschen zwischen 14 und 29 Jahren und da ist das Thema psychische Erkrankungen, Depressionen, auch Suizidalität, nochmal deutlich höher.
„Von außen kann man manchmal noch etwas sehen, was der andere nicht sieht. Vielleicht.“
Wie ist das für Sie, wenn jemand sagt, dass er über Suizid nachdenkt?
Hartmann: Man fühlt Ohnmacht – und das ist ein angemessenes Gefühl in so einer Situation. Das darf man dem Anrufenden auch sagen: ‚Ich bin fassungslos, dass Sie jetzt an diesem Punkt sind.‘ Dann gilt es, den Kontakt zu halten, denn jeder Kontakt wirkt antisuizidal. Jeder, der uns anruft, hat einen inneren Teil, der vielleicht noch leben will, denn er hat zum Hörer gegriffen. Zuerst aber kümmern wir uns um den Teil, der nicht mehr leben will: Was hat dazu geführt? Manchmal geraten Menschen mit Suizidgedanken in einen Tunnel und sehen nur noch diese eine Lösung.
Können Sie diese Sichtweise ändern?
Hartmann: Von außen kann man manchmal noch etwas sehen, was der andere nicht sieht. Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Es obliegt dann der Kreativität des Telefonseelsorgers, den Kontakt zu halten, indem er zum Beispiel fragt: Wie geht es Ihnen jetzt, nachdem wir das beleuchtet haben? Ich merke, Sie sind erschöpft vom Reden, wollen Sie sich mal hinlegen, haben Sie schon etwas gegessen? Wen könnten Sie noch anrufen, der zu Ihnen kommen könnte? Ganz kleinschrittig. Und, auf jeden Fall: Rufen Sie morgen früh nochmal an! Denn oft kommen diese Anrufe in den Abendstunden.
Sie erfahren normalerweise nicht, was aus dem Anrufenden geworden ist. Was tun Sie, um hinterher nicht darüber nachzugrübeln, was die Person jetzt tun wird, ob Sie anders hätten reagieren müssen?
Hartmann: Jeder Ehrenamtliche fragt sich nach solchen Gesprächen: War ich gut genug? In der Supervision besprechen wir das, und die Ehrenamtlichen können jederzeit einen Hauptamtlichen kontaktieren, um für sich Wege zu finden, das Gespräch abzulegen. Manchmal zünden sie eine Kerze für die betreffende Person an, sprechen ein Gebet und hoffen, dass die Person sich nochmal melden wird oder den Mut hat, die Psychiatrie aufzusuchen.
Und wenn jemand diese Gedanken nur andeutet? Gehen Sie darauf ein?
Hartmann: Man darf keine Angst davor haben – das ist kein Tabuthema. Am Telefon muss man sofort nachfragen, wenn jemand etwas in dieser Richtung sagt: Wir wecken damit nicht die Suizidalität.
Abel: Die meisten sind erleichtert: Endlich können sie jemandem mal sagen, dass sie solche Gedanken haben. Und wir bewerten das nicht, denn das darf sein und man darf an diesen Punkt kommen, dass man denkt: Ich möchte nicht mehr.
„Wir bewerten das nicht, denn das darf sein und man darf an diesen Punkt kommen, dass man denkt: ‚Ich möchte nicht mehr‘.“
Welcher Anruf ist Ihnen, Frau Hartmann, in den 20 Jahren besonders im Gedächtnis geblieben?
Ein Anruf geht mir immer noch nah. Der kam von einer Frau, die nachts angerufen hat, weil sie neben sich im Bett ihren toten Mann gefunden hat. Sie wusste nicht, was die nächsten Schritte sind und war gleichzeitig von der Traurigkeit überwältigt.
Wie geht es jetzt für Sie weiter, wenn Sie hier die Tür hinter sich zugemacht haben?
Ich nehme eine Auszeit auf einer einsamen Insel und werde mich dort geistlich begleiten lassen. So kann ich nochmal auf meine 42 Berufsjahre schauen und mich dann bewusst auf die neue Lebensphase ausrichten. Das geschieht in der Stille und einem täglichen Begleitgespräch. Ich würde sagen, das nimmt man aus der Arbeit in der Telefonseelsorge mit: der Seele Raum zu geben.
In einer früheren Fassung des Textes ist uns ein Fehler unterlaufen: Elisabeth Hartmann hat die Telefonseelsorge nicht 20, sondern 5 Jahre geleitet, zuvor aber bereits 15 Jahre als Fachkraft für die katholische Telefonseelsorge gearbeitet.
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