Essen. Kunstschaffende und Kunden bereiten dem Buchhändler-Duo Beate Scherzer und Peter Kolling in der Essener Lichtburg ein rauschendes Fest.

Menschen strömen in die Lichtburg. Doch diesmal gibt es keine Filmstars, die im Blitzlichtgewitter vor dem Eingang bejubelt werden. Hinter dem Kassenhäuschen stehen Proust-Gründer Beate Scherzer und Peter Kolling und begrüßen geladene Gäste aus der Kulturszene, die fast vollständig anwesend zu sein scheint, sowie manche Kundinnen und Kunden, die sich durchs Foyer in den Saal schieben. Viele haben kein Ticket bekommen. Deutschlands größter Filmpalast, in dem schon einige Literatur-Stars Station machten, war in Nullkommanix ausverkauft.

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Diakonisse lobt Essener Proust als besonderen Ort der Begegnung

Auf der Leinwand erscheinen Bilder aus dem Alltag der Buchhandlung Proust. Ulf Mendak, der mit Denise Walessa Karten ergattert hat, ist seit sechs Jahren Kunde. „Die hatten Jazz-CDs“, sagt er. „Es gibt viele Bücher, die man sonst nicht findet und es ist eine Buchhandlung, die mich besser beraten hat.“ Die Schweizer Diakonisse Brigitta Schröder, die 50 Jahre in Essen gelebt hat, kennt den Buchladen als Autorin. Ihre Bücher hat die heute 89-Jährige dort vorgestellt. „Sie haben einen Ort mit besonderer Atmosphäre geschaffen, an dem Menschen sich begegnen können“, betont sie.

Und dann ist da noch Mareike Glabasnia, die als ehemalige Auszubildende von Proust weiß, wovon sie spricht: „Jedes Tun der beiden bei den Büchern, bei den Veranstaltungen kommt von Herzen.“ Kaum ausgesprochen, betritt Gerburg Jahnke die schlicht gehaltene Bühne. Die Kabarettistin, Schauspielerin, Regisseurin, langjährige Beate-Scherzer-Freundin moderiert den Abend sehr charmant mit großer Klappe und viel dahinter. Sie haut Sätze raus wie: „Hömma Essen, Du kannst Dich glücklich schätzen, solche Menschen zu haben.“

Moderatorin und Kabarettistin Gerburg Jahnke im Gespräch mit dem Philosophen, Politologen und ehemaligen KWI-Chef Claus Leggewie.
Moderatorin und Kabarettistin Gerburg Jahnke im Gespräch mit dem Philosophen, Politologen und ehemaligen KWI-Chef Claus Leggewie. © FUNKE Foto Services | Socrates Tassos

Eine großartige Institution für Literatur in Essen geschaffen

Natürlich wird von der Lebensleistung der Proust-Menschen gesprochen, davon, wie sie aus einer doch recht kleinen Buchhandlung eine großartige Institution für Literatur in Essen geschaffen haben. Begonnen hat die Geschichte bereits von 1990 bis 2007 im Grillo-Theater mit Literaturnächten und Lesungen, oft in Kooperation mit „Schreibheft“-Herausgeber Norbert Wehr. 2005 hob Scherzer mit Kolling das „Proust. Wörter und Töne“ aus der Taufe. Andere Partner kamen hinzu wie das Museum Folkwang, die Lichtburg, das Kulturwissenschaftliche Institut oder das Deutsch-Französische Kulturzentrum. Mit ihnen gelang es, Weltliteratur ins Ruhrgebiet zu holen, von Stéphane Hessel bis Orhan Pamuk, von Bernhard Schlink bis T.C. Boyle.

Jazz-Professor Thomas Hufschmidt und Sängerin Joyce van de Pol sorgten mit Film-Songs von „Smile“ bis „Skyfall“ für besondere Stimmung.
Jazz-Professor Thomas Hufschmidt und Sängerin Joyce van de Pol sorgten mit Film-Songs von „Smile“ bis „Skyfall“ für besondere Stimmung. © Peter Wieler | PETER WIELER

Das renommierte Buchhändler-Duo wird erst zum Schluss zu Wort kommen, all den vielen Wegbegleiterinnen und Wegbegleitern danken und gefeiert werden. Einige dieser Kunstschaffenden aus Essen, Dortmund oder Wanne-Eickel treten auf, allen voran Jazz-Professor Thomas Hufschmidt, der mit Sängerin Joyce van de Pol einen begnadeten Beitrag zum Ausstand bietet. „Smile“ und „Skyfall“ wischen aufkeimende Sentimentalitäten weg. Aber nicht das Gefühl. Ex-Auszubildende Jessica Lehmann unternimmt eine Proust-Zeitreise. Gerburg Jahnke streut Anekdoten aus dem Dasein von Beate und Peter ein unter Verwendung jeglicher Alliteration mit B und P.

Der Philosoph, Politologe und ehemaliger KWI-Chef Claus Leggewie tritt ohne den erkrankten Schriftsteller Navid Kermani auf und erinnert daran, wofür das Proust und ihre Inhaber auch stehen: politische Positionierung. Er berichtet von dem algerischen Autor Boualem Sansal, der im vergangenen Jahr ohne Angaben von Gründen verhaftet wurde, und fordert auf, gegen diese Ungerechtigkeit anzukämpfen. Wir wissen nicht, wie viele der 1250 Anwesenden eine Unterschrift geleistet haben für seine Freilassung, aber es würde ein Zeichen setzen, meint Leggewie.

Ihre treffsichere Lyrik bewegt in der Lichtburg: Lina Atfah, Gewinnerin des Literaturpreises Ruhr 2023, an der Seite des preisgekrönten Lyrikers Jan Wagner.
Ihre treffsichere Lyrik bewegt in der Lichtburg: Lina Atfah, Gewinnerin des Literaturpreises Ruhr 2023, an der Seite des preisgekrönten Lyrikers Jan Wagner. © Peter Wieler | PETER WIELER

Der Einsatz der Essener Schauspielerinnen Bettina Engelhardt und Silvia Weiskopf bringt die Leichtigkeit wieder in den Abend, der mit dem ultimativen Proust-Quiz von Till Beckmann und Jenny Ewert noch lange nicht endet. Proust-Kenner sind gefragt nach der Schlagzeile, mit der es Proust in die Bild-Zeitung geschafft hat oder Peters Ausspruch bei einem misslungenen Backduell mit der Lichtburg. Das Publikum ist eifrig bei der Sache, aber auch konzentriert, wenn es um die feingliedrige und treffsichere Lyrik von Lütfiye Güzel, Lina Atfah und Jan Wagner geht. Nicht zuletzt widmet sich Kabarettist Fritz Eckenga den Eigenarten des Ruhrgebiets.

Literatur live mit Proust

Maria Stepanova stellt am 22. Januar, 19.30 Uhr, ihr Werk „Der Absprung“ im Leseraum der Buchhandlung Proust vor.

1972 in Moskau geboren, lebt die Autorin zurzeit im Exil in Berlin. 2023 erhielt sie den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. Buchveröffentlichungen in deutscher Sprache: „Nach dem Gedächtnis“, „Der Körper kehrt wieder“, „Mädchen ohne Kleider“, „Winterpoem“, „Im Innern des Vokals“.

Karten und Hinweise auf weitere Veranstaltungen in der Buchhandlung oder auf www.buchhandlung-proust.de

Der dreistündige Abschied mit Humor und dem Ernst des Lebens endet kurz und bündig. Wer Reden, Lobeshymnen erwartet hat, wartet vergebens. Nur wenige Worte werden Beate Scherzer und Peter Kolling los, stellen ihre Nachfolgerinnen vor und hinterlassen einen Satz, beim dem ein wenig Stolz mitschwingt: „Ich glaube“, sagt Kolling, „wir sind die Ersten hier, die jeden in diesem Raum kennen.“ Tosender Applaus.

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